Straßburg – Nach der knappen Wahl Ursula von der Leyens sind die Erwartungen hoch, dass die neue EU-Kommissionschefin rasch ein Team zusammenstellt und ab dem Herbst ihre Versprechen angeht. Es gebe viel zu tun, sagte EU-Parlamentspräsident David Sassoli gestern und nannte als Beispiele den für Ende Oktober angekündigten Brexit und die komplizierten Finanzverhandlungen. „Ich hoffe, dass die Kommission deshalb so schnell wie möglich die Arbeit aufnehmen kann“, sagte Sassoli.
Von der Leyen selbst hat im Ringen um eine Mehrheit viel versprochen, die Liste der Themen ist lang: ein klimaneutrales Europa bis 2050, Mindestlöhne in ganz Europa, eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung, bessere Löhne für Frauen, gerechtere Unternehmensteuern, sicherere Grenzen und eine neue Migrations- und Asylpolitik. Sie will der EU auch mehr Gewicht auf der Weltbühne verschaffen, mit schnelleren Entscheidungen in der Außenpolitik und mehr Zusammenarbeit in der Verteidigung. Letzteres trauen Experten der langjährigen deutschen Verteidigungsministerin auch zu. „Die Ernennung von Ursula von der Leyen bietet die Chance für einen Neuanfang der europäischen Außenpolitik“, kommentierte etwa Mark Leonhard vom European Council on Foreign Relations.
Bei anderen Themen sieht es kritischer aus. So bedeutet zum Beispiel von der Leyens Versprechen, die Treibhausgase um bis zu 55 Prozent bis 2030 zu senken, einen schnellen Kurswechsel. Kohlendioxid müsse einen Preis haben, sagt die neue Kommissionschefin, und das würde konkrete Folgen an der Tankstelle oder beim Reisen nach sich ziehen, beziehungsweise beim nächsten Autokauf oder beim Umbau des eigenen Häuschens.
Aus der deutschen Wirtschaft kommt bereits Gegenwind. Ökonomen warnen die künftige EU-Kommissionspräsidentin vor einer stärkeren Regulierung wie etwa durch einen europäischen Mindestlohn. Auch der Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée, mahnt: „Sie sollte davon Abstand nehmen, mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung das Umverteilungskarussell immer schneller zu drehen.“
Aber kann von der Leyen das alles überhaupt durchsetzen? Die neue Präsidentin hatte im Parlament eine hauchdünne Mehrheit von nur neun Stimmen. Und diese kam offenbar nur zustande, weil EU-kritische Abgeordnete wie jene der polnischen Regierungspartei PiS für sie votierten. Die wiederum finden unter anderem die Klimapläne hanebüchen, zumal Polen seinen Strom überwiegend aus Kohle bezieht. Noch im Juni verhinderten Polen und andere eine Festlegung der EU auf eine klimaneutrale Wirtschaft bis 2050.
Trotzdem ist von der Leyens Mission nicht aussichtslos. Es gibt eine EU-freundliche Mehrheit aus Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen im Parlament. Bei der Wahl verweigerten zwar die Grünen und ein Drittel der Sozialdemokraten der Kandidatin die Stimme. Doch wäre das unwahrscheinlich bei konkreten Gesetzesvorhaben, die deren Ziele umsetzen. Diese Chance will von der Leyen nutzen – trotz der ihr entgegenschlagenden Skepsis. Nach dem Schlamassel der letzten Wochen hat von der Leyen zudem versprochen, bei Verhandlungen mit dem Rat zu moderieren, um das Verfahren mit den Spitzenkandidaten für die Zukunft abzusichern.
Doch erst einmal geht es um Posten. Die Grünen haben von der Leyen schon Bedingungen für die Zusammenarbeit gestellt. Angesichts ihrer knappen Wahl sei die CDU-Politikerin ohne Unterstützung der Grünen in einer „unhaltbaren Situation“, sagte Ko-Fraktionschef Philippe Lamberts. Das Stimmgewicht der Grünen entspreche „vier Kommissaren“ in der 28-köpfigen Kommission. „Wenn sie uns wollen, müssen sie bezahlen.“