Im Herbst der Macht

von Redaktion

Endphase einer Kanzlerin, die das Land geprägt hat: Ausgerechnet zum 65. Geburtstag zeigt Angela Merkel Schwäche. Dennoch gilt sie noch immer als Stabilitätsanker in einer unruhigen Welt. Schafft sie noch einen selbstbestimmten Ausstieg?

VON CHRISTOPH SCHOLZ

Berlin – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sorgt derzeit vor allem mit ihrer Gesundheit für Schlagzeilen. Drei öffentliche Zitteranfälle werfen Fragen nach ihrer Amtstüchtigkeit auf. Gestern absolvierte sie auch die militärischen Ehren für die moldawische Ministerpräsidentin Maia Sandu im Sitzen. Heute nun wird Merkel 65 Jahre alt. Für Politiker noch kein wirkliches Alter. In den USA geht gerade der 76-jährige Joe Biden gegen den 73-jährigen Donald Trump ins Rennen um die künftige Präsidentschaft. Spätestens wenn die neue Amtszeit des künftigen US-Präsident beginnt, geht jene von Merkel allerdings ihrem Ende zu.

Unabhängig, ob es sich um eine vorübergehende Schwäche handelt oder nicht: Das langjährige immense Arbeitspensum auf nationaler wie internationaler Ebene, vor allem aber die schwere Last der Verantwortung, haben bei der Regierungschefin Spuren hinterlassen. Anders als bei anderen Spitzenpolitikern gehört es zu Merkels Pflichtbewusstsein, sich auch in Detailfragen einzuarbeiten. Hinzu kam Anfang April der Tod ihrer Mutter Herlind Kasner, der sie eng verbunden war.

Ihrer letzten Kanzlerkandidatur ging nach eigenen Angaben eine intensive Bedenkzeit voraus. Bei der Zusage soll auch die internationale Großwetterlage nach Trumps Sieg eine Rolle gespielt haben. Unversehens fand sich die eher zurückhaltend agierende Merkel in der Führungsrolle der liberalen westlichen Demokratien wieder, die durch rechtspopulistische Bewegungen erschüttert werden. Für ihre politische Arbeit erhielt sie im Mai von der US-Elite-Uni Harvard ihre 16. Ehrendoktorwürde.

Spätestens mit der Aufgabe des CDU-Vorsitzes nach 18 Jahren hat Merkel nach Ansicht von Beobachtern allerdings den Zenit ihrer Macht überschritten. Vorausgegangen war ein für sie bitteres Bundestagswahlergebnis und die aufreibenden Koalitionsverhandlungen, aus denen das ungeliebte Bündnis mit der SPD hervorging. Ein weiteres Amt etwa in Brüssel hat sie frühzeitig ausgeschlossen. Sie sei „ein bisschen traurig“, meinte sie auf Nachfragen, „dass meine Worte scheinbar überhaupt nicht respektiert werden“.

Ebenso deutlich betont sie, dass sie bis zum Ende der Legislatur bereitstehe. Anfang 2020 würde sie mit 14 Jahren und zwei Monaten die Regierungszeit von Konrad Adenauer überholen und Ende 2021 die von Helmut Kohl – sofern sie dann noch im Amt ist. Die CDU verabschiedete ihre Vorsitzende im Dezember mit zehnminütigem Applaus und auch einem Hauch von Wehmut. Es sei nun an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, so die scheidende Chefin, die mit den Tränen rang.

Die ostdeutsche Pastorentochter fand erst spät, mit 35 Jahren, in die Politik, um in einer männerdominierten, rheinisch-katholisch geprägten CDU eine fulminante Karriere zu machen. Mit 51 Jahren war sie die jüngste Amtsinhaberin, die erste Frau und erste ostdeutsche Regierungschefin.

Mit ihrer Entscheidung für die Flüchtlingsaufnahme 2015 schrieb sie Geschichte. Bis heute scheiden sich an dieser Entscheidung die Geister. Politisches Kapital schlugen daraus vor allem die Rechtspopulisten der AfD. Auf dem internationalen Parkett mehrte die Kanzlerin dagegen ihr Ansehen. In Zeiten von Trump, Erdogan oder Putin galt und gilt sie vielen als Anführerin des Westens.

Merkel mag im Herbst ihrer Macht stehen – aber sie gilt weiter als Stabilitätsanker in den Umbrüchen der Globalisierung. Die Debatte um ihren Gesundheitszustand wirkt da eher zweitrangig.

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