München – Um 9.53 Uhr verschickt die SPD eine Mail, deren Überschrift mit dem Wort „Eilt“ beginnt. Wenn sonntags um diese Zeit Eilmeldungen durchs Land gejagt werden, muss etwas außergewöhnlich Wichtiges geschehen sein. Ist es auch: Andrea Nahles verkündet ihren Rückzug als Partei- und Fraktionschefin. Im Laufe des Vormittags bestätigt eine Sprecherin, dass Nahles sogar ihr Bundestagsmandat niederlegen wolle. Sie vermisst den Rückhalt, der „zur Ausübung meiner Ämter notwendig“ sei. Von der in Parteien so gerne gepflegten Wir-Form ist in Nahles’ Erklärung keine Rede mehr: „Ich hoffe sehr, dass es euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt.“ Dieser Abschied klingt sehr endgültig.
Nahles hinterlässt eine aufgewühlte Partei. Die einen reagieren regelrecht erleichtert, andere aufgebracht. „Da hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt“, schimpft der Abgeordnete Karl Lauterbach. Juso-Chef Kevin Kühnert findet, man dürfe „nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben. Ich schäme mich dafür.“ Sigmar Gabriel, Vorgänger als SPD-Vorsitzender, fordert eine „Entgiftung“ der Partei – was ein wenig scheinheilig klingt, schließlich gehörte er zu ihren schärfsten internen Kritikern.
Jetzt wollen alle erst einmal eine Personaldebatte vermeiden. Als sich am Sonntagabend – lange geplant – die engere Parteiführung trifft, ist klar, dass man eine kommissarische Personalplanung vorlegen wird: Die Fraktion dürfte vorübergehend der bisherige Vize Rolf Mützenich führen, auch die Partei übernimmt wohl einer der Stellvertreter. Infrage kommen die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer oder ihre Kollegin Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern).
Heute will Nahles den Parteivorstand offiziell informieren, morgen die Fraktion. Die hätte eigentlich morgen über eine neue Führung abstimmen sollen, nachdem Nahles vor einer Woche alle überrascht hatte mit der Ankündigung, die für September vorgesehenen Wahlen zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Intern kam dieses Manöver nicht gut an. Ihr wird vorgeworfen, Machtspielchen zu treiben, statt dafür zu sorgen, dass die Partei zur Ruhe kommt. Der Streit endete letztlich mit ihrem Rücktritt – aber als es so weit ist, ist die Personalie schon nicht mehr nur ein sozialdemokratisches Thema. Nahles’ Abschied stellt auch die Regierungskoalition in Frage.
Auch die CDU hat sich am Sonntag planmäßig versammelt. Als der Termin vor ein paar Wochen bekannt wurde, war spekuliert worden, Angela Merkel könne ihr Amt an Annegret Kramp-Karrenbauer übergeben. Nach der Europawahl sollte es dann vor allem um die Aufarbeitung des schwachen Wahlkampfes gehen. Doch gestern schließlich schrumpft der richtige Umgang mit Youtubern plötzlich zu einem Randaspekt. AKK, Fraktionschef Brinkhaus und die Kanzlerin persönlich eilen im Halbstundentakt vor die Kameras, um den Fortbestand der Großen Koalition zu beschwören.
Zur Sorge besteht ausreichend Anlass. Die ganze Zerrissenheit der SPD hängt ja wesentlich mit der Rolle in der GroKo zusammen. Vize-Kanzler Olaf Scholz, einer der engsten Nahles-Vertrauten, hatte noch vor der Rücktrittsmeldung im „Tagesspiegel“ gesagt, eine Fortsetzung der Koalition über 2021 hinaus wolle „niemand“. Vorher auszusteigen sei aber kein Thema. Viele in der Partei sehen das anders. Die Bayern-SPD zum Beispiel, die ein Vorziehen des Parteitags fordert. „Das Ergebnis der Europawahl offenbart, dass die Große Koalition keine Mehrheit mehr hat. In ihm kommt eine große Ablehnung der aktuellen Regierungspolitik zum Ausdruck“, heißt es im Beschluss.
So richtig gewollt haben die Sozialdemokraten diese Koalition von Anfang an nicht. Nach der Wahlniederlage im Herbst 2017 setzte sich schnell die Meinung durch, dass man in die Opposition gehen müsse, um das Bild des CDU-Juniorpartners abzustreifen und das eigene Profil neu zu schärfen. Ab jetzt gebe es „in die Fresse“ rief sie den Unionsministern im Scherz zu. Doch ließ die FDP die Jamaika-Verhandlungen scheitern, und die Genossen mussten wieder ran.
Einstecken musste seitdem vor allem Nahles. Jetzt hat sie genug. Auch von der Politik.