Würzburg/München – Den finstersten Moment seiner politischen Laufbahn übersteht Oliver Jörg mit Fassung. Er sitzt vor einem Wasserglas an einem Tisch im Würzburger Ratskeller, starrt über Stunden auf den Fernseher mit den Hochrechnungen. Und sieht, was er Wochen zuvor geahnt hat: Die CSU verliert das Direktmandat – seines – an die Grünen. „Das ist Demokratie“, sagt Jörg ruhig und ohne Bitterkeit in die nächste Fernsehkamera auf der CSU-Wahlparty. „Das muss man sportlich nehmen.“
An jenem Oktoberabend 2018 schien die Politkarriere des aufstrebenden Abgeordneten jäh zu enden. Ein paar Monate vorher war er noch als Wissenschaftsminister fürs erste Söder-Kabinett im Gespräch gewesen, er hatte ein halbes Jahrzehnt den Hochschulausschuss geleitet, galt im Landtag als eines der größten CSU-Talente (zu einer Zeit, als es noch einige davon gab). Journalisten fanden ihn spannend: Jugendlich wirkend, obwohl Volljurist und heute 46 Jahre alt, studierte vier Semester Hocharabisch; war Entwicklungshelfer in Albanien; Mitglied einer farbentragenden Studentenverbindung, aber schon 2009 scharfer Kritiker der CSU-Flüchtlingspolitik.
Warum er dann in seiner Heimatstadt die Wahl verlor, eine Nachkommastelle, rund 500 Stimmen, weiß keiner so genau. Ein Gründebündel: Asylkurs und Rhetorik der CSU 2017/18 stießen Studenten ab; Konflikte mit der Kirche verwirrten Würzburgs klerikal-konservative Wähler; dazu lokale Wunden wie die seit 2015 wild diskutierte Verlagerung des Staatsarchivs. Und Jörgs persönliche Situation, die halbe Stadt tuschelte über seine Trennung.
Politik ist ein hartes Geschäft, die CSU übt selten Nachsorge mit Wahlverlierern. Bei Jörg, fortan Anwalt einer Wirtschafts- und Insolvenzkanzlei, meldeten sich aber regelmäßig Parteifreunde. Auch Markus Blume, inzwischen CSU-Generalsekretär, hielt Kontakt. Beide kennen sich gut aus der Jungen Gruppe des Landtags, jenem Netzwerk von CSU-Abgeordneten diesseits der Lebensmitte. Blume entwickelte wohl die Idee für ein sehr ungewöhnliches Comeback: Jörg verlässt die Politik und übernimmt als oberster Mitarbeiter die Hanns-Seidel-Stiftung (offizieller Titel ebenfalls „Generalsekretär“). Jörg dachte ein paar Stunden nach, es gab für ihn auch andere Job-Optionen in der Jura-Welt. Und sagte dann zu.
Nein, kein Versorgungspösterl, kein Austragsstüberl – sondern ein heikler Auftrag, die traditionsreiche Stiftung wuchtig umzubauen. CSU-Chef Söder verlangt die Fortsetzung der Modernisierung in allen Bereichen: politische Bildung, Auslandsarbeit, Stipendien für Journalisten-Nachwuchs. Die Stiftung werde „noch stärker Seismograf sein, wo die Gesellschaft sich verändert“, verspricht Jörg.
Er wird im Juli nach München ziehen. Ein Neuanfang. Es hat sich gelohnt, den Tiefpunkt vom Wahlabend so sportlich zu nehmen. CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER