Berlin – Ist dieser Mann eigentlich nicht ausgelastet? 2018 war Robert Habeck der häufigste Talkshowgast und weil ihm die Wills und Illners offenbar nicht reichen, saß er zuletzt auch noch im „Literarischen Quartett“ und auf diversen anderen Literatur-Bühnen. Ach ja, ein Kinderbuch (mit seiner Frau) und ein Manifest über den Zusammenhang von Sprache und Politik hat er auch noch geschrieben. Und dann steht ja bald die Europawahl an. Großkampfzeit für den Grünen-Chef.
Habeck ist überall und seine dreitagebärtige Omnipräsenz trägt Früchte: Laut ZDF-Politbarometer ist er der beliebteste deutsche Politiker. Auch seine Partei erlebt einen konstanten Höhenflug. Langsam fragt man sich, wie lange die Erfolgswelle noch weiterrollt. Da kommt ein wenig Selbstfindung gerade recht.
Seit Monaten arbeiten die Grünen an einem Grundsatzprogramm, 2020 soll es fertig sein. Am Freitag haben Habeck und Co-Chefin Annalena Baerbock einen Zwischenbericht vorgestellt. Die 65 Seiten (Titel: „Veränderung in Zuversicht“) geben eine gute Idee davon, wo es hingehen soll.
Ein paar Stichworte: Umwelt- und Klimaschutz stehen ganz oben. Technologischer Wandel ist eine Chance, solange der Mensch ihn kontrolliert. Die Polizei ist „Verteidigerin von Rechtsstaat und Demokratie“. Die EU soll zur „föderalen Republik“ werden. Marktwirtschaft ist nicht des Teufels, muss aber ökologisch und sozial sein. Alles in allem: Optimismus statt Weltuntergangsfantasien. Dabei wollen die Grünen möglichst jeden mitnehmen. Habecks Wohlfühl-Image soll zum Partei-Image werden.
„Wir wollen uns mit dem Grundsatzprogramm neu aufstellen, als Bündnispartei mit Wertekompass“, sagt Baerbock. „Wir richten uns an die Breite der Gesellschaft und nehmen das demokratische Gemeinwesen als Ganzes in den Blick.“ Raus aus der grünen Nische also. Während CDU und SPD sich eher auf ihre Ursprünge besinnen und ihre Kernklientel umgarnen, planen die Grünen genau das Gegenteil. Dabei tun sich aber Widersprüche auf.
Etwa: Wollen sie mit jedem können oder radikal sein?
Die Grünen regieren in den Ländern mit CDU, SPD, FDP und Linken. Diese Anschlussfähigkeit soll bleiben, es geht ja ums „Gestalten“, um Macht – aber auch darum, überhaupt Mehrheiten ohne AfD zu ermöglichen. Zugleich sprechen die Spitzengrünen seit Monaten von „Radikalität“, die der neue Realismus sei, vor allem beim Umwelt- und Klimaschutz.
Der Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek forderte etwa zuletzt im Interview mit unserer Zeitung, die Zahl der Flugreisen auf drei pro Jahr zu reduzieren. Auch aus der eigenen Partei hagelte es Kritik – unter anderem, weil man die eigenen Wähler verprelle.
Janecek bleibt trotzdem dabei: Die Grünen könnten halt keine reine Wohlfühlparte sein. „Jede Debatte um neue Regeln für nachhaltigeren Konsum stellt bisherige kulturelle Muster infrage“, sagt er. Das bedeute „zwangsläufig gesellschaftliche Konflikte, denen wir uns stellen müssen“. Der Klimakrise nur technologisch zu begegnen, werde nicht ausreichen. „Auch Elektromobilität beansprucht neue Ressourcen, das Fliegen wird auf Jahrzehnte hinweg eben nicht klimaneutral werden können und das heutige Ausmaß an Fleischkonsum ist ein großer Klimakiller.“
Zweiter Widerspruch: „Wir sind für jeden da“ oder „Es geht ums Gemeinwohl“?
Mit ihrer politisch sehr korrekten Sprache und Haltung, mit Unisex-Toiletten und Gendersternchen gehen die Grünen vielen auf die Nerven. Respekt vor und Einsatz für Minderheiten steckt in ihren Genen, dazu kommt ein gewisses Avantgarde-Gefühl. Doch nun heißt es in der Präambel des Grundsatz-Papiers: „Unsere Politik richtet sich an alle Bürger*innen.“ Die ganz große Umarmung also.
Das Für-alle-da-sein-Wollen ist ureigenes Terrain der Volksparteien. Und die spüren gerade, wie schwierig es ist, wenn Milieus zerfallen und die Gesellschaft auseinanderdriftet. Die Grünen reden längst nicht mehr nur mit Greenpeace und Pro Asyl, sondern auch mit der Industrie und dem Bauernverband. Spreizen sie sich am Ende zu sehr? Die SPD macht gerade vor, wo das hinführen kann.