Nato droht Zerreißprobe bei Aufrüstung

von Redaktion

Generalsekretär versucht, die Angst vor neuen Atomwaffen in Deutschland zu dämpfen – Andere denken offensiver

Brüssel – Wer im ZDF das Interview mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verfolgte, konnte versucht sein, etwas aufzuatmen. „Wir haben nicht die Absicht, neue landgestützte nukleare Waffensysteme in Europa zu stationieren“, erklärte Stoltenberg da am Freitagabend – kurz nachdem die USA einen der wichtigsten Abrüstungsverträge mit Russland aufgekündigt hatten. Die Nato müsse nicht notwendigerweise das spiegeln, was Russland tue. Man werde „verantwortungsbewusst“ antworten.

Also kein neues Wettrüsten? Keine neuen Nuklearwaffen in Deutschland? Was Stoltenberg nicht sagte, ist, dass sich die Situation schnell ändern könnte. Wenn er erklärt, dass die Nato nicht die Absicht habe, neue Waffensysteme in Europa zu stationieren, heißt dies nur: Bislang gibt es keinen einstimmigen Beschluss der 29 Mitgliedstaaten, in diese Richtung zu planen.

Spätestens im Sommer, wenn der INF-Vertrag zum Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen endgültig Geschichte ist, dürfte die Aufrüstungsdiskussion richtig losgehen. Russland kündigte am Wochenende an, mit dem Start von Arbeiten an neuen, landgestützten Hyperschall-Mittelstreckenraketen auf die US-Entscheidung zu reagieren. „Die amerikanischen Partner haben die Aussetzung ihrer Teilnahme an dem Vertrag erklärt, und wir setzen ihn ebenfalls aus“, so Präsident Wladimir Putin am Samstag.

Der Nato droht damit eine neue Zerreißprobe. Während Länder wie Deutschland eine atomare Nachrüstung in Reaktion auf mutmaßliche Vertragsverstöße Russlands ablehnen, äußern sich andere offen. So machte der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz deutlich, dass sein Land im Zweifelsfall bereit wäre, zur Abschreckung neue US-Mittelstreckenwaffen zu stationieren. „Es liegt in unserem europäischen Interesse, dass amerikanische Truppen und Atomraketen auf dem Kontinent stationiert sind“, sagte er dem „Spiegel“. Russland verstehe nur die Sprache der Stärke.

Auch Experten warnen davor, die Entwicklung landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen und ihre Stationierung von vornherein auszuschließen. „Nur auf diplomatische Bemühungen zu setzen und bestimmte militärische Gegenmaßnahmen von vornherein auszuschließen, schwächt Europas Verteidigung und erhöht die Optionen Russlands“, schreiben der frühere beigeordnete Nato-Generalsekretär Heinrich Brauß und der stellvertretende Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, in einer Analyse.

Strategisches Ziel des neuen russischen Waffensystems sei es auch, den Verteidigungswillen der europäischen Verbündeten im Krisen- und Verteidigungsfall zu lähmen. Weil die Raketen vom Typ SSC-8 in der Lage seien, in fast ganz Europa Hauptstädte und kritische zivile und militärische Infrastruktur mit geringer oder ohne Vorwarnzeit treffen zu können, könnten sie im Konfliktfall die Handlungsfreiheit der Nato erheblich einschränken.

Hinzu kommt, dass das neue System die Nato in zwei Sicherheitszonen teilt, da die russischen Raketen nur Europa und nicht die Vereinigten Staaten erreichen können. Dies birgt nach Einschätzung von Brauß und Mölling die Gefahr, dass die USA bei einem Konflikt in Europa versucht sein könnten, nicht alle militärischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Bündnispartner zu verteidigen.

Gibt es einen Weg, die Sicherheit in Europa ohne atomare Aufrüstung zu garantieren? Außenpolitiker von CDU und SPD machten einen Vorschlag an Russland und die USA. Roderich Kiesewetter (CDU) und Rolf Mützenich (SPD) forderten Moskau auf, seine neuen Marschflugkörper vom Typ SSC-8 (russische Bezeichnung 9M729) so weit nach Osten zu verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen können. Im Gegenzug sollten von Russland kritisierte US-Raketenabschussanlagen in Europa für russische Kontrollen geöffnet werden. Dass sich Russland und die USA auf einen solchen Vorschlag einlassen, erscheint aber äußerst unwahrscheinlich. MICHAEL DONHAUSER

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