London – Im Schatten von Big Ben wird in den kommenden Tagen ein erbitterter Kampf um die Zukunft Großbritanniens ausgetragen. Das Unterhaus ist heillos zerstritten über das zwischen London und Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen. Derzeit ist nicht zu erkennen, wie Premierministerin Theresa May am 11. Dezember eine Mehrheit dafür bekommen will. Fällt der Deal durch, betritt Großbritannien politisches Neuland. Wird er angenommen, drohen eventuell weitere Fallstricke. Diese Szenarien sind denkbar:
Das Abkommen wird angenommen: Sollte es May gelingen, das Abkommen mit leichter Unterstützung aus der Opposition durchs Parlament zu bringen, wäre die Regierung zunächst gerettet. Dann könnte der EU-Austritt sehr wahrscheinlich wie geplant am 29. März über die Bühne gehen und Großbritannien in die Übergangsphase eintreten. Im Verhältnis zur EU würde dann bis mindestens 2020 alles bleiben, wie es ist. Brüssel und London könnten an ihrer neuen Beziehung arbeiten. Das Ringen um den richtigen Brexit wäre zwar nicht beendet, aber die Gefahr eines ungeregelten Austritts zunächst gebannt. Dafür müsste May aber einen großen Teil ihrer Rebellen im eigenen Lager und die nordirische DUP auf ihre Seite ziehen.
Das Abkommen wird angenommen, aber die Regierung ist am Ende: Sollte May das Abkommen nur mit massiver Hilfe aus der Opposition und gegen den Widerstand aus den eigenen Reihen und der nordirischen DUP durchsetzen, wäre ihre politische Zukunft sehr fraglich. Mays Minderheitsregierung ist auf die Unterstützung der DUP angewiesen. DUP-Chefin Arlene Foster machte klar, dass die Unterstützung ihrer Partei für die Regierung auf den Prüfstand kommt. Die Premierministerin könnte sich bei weiteren Abstimmungen, zum Beispiel beim Haushaltsgesetz wohl nicht mehr auf die DUP stützen. May wäre dauerhaft auf Hilfe aus der Opposition angewiesen – kaum vorstellbar – oder ihre Regierung wäre am Ende.
Denkbar wäre, dass die Konservativen dann unter dem Druck der DUP die Premierministerin stürzen und einen anderen Chef wählen. Doch der stünde unter Druck, im Tausch für die Unterstützung der DUP in Brüssel nachzuverhandeln. Das Brexit-Abkommen stünde wieder auf der Kippe. Die Europäische Union hat deutlich gemacht, dass es kein besseres Angebot geben wird. Großbritannien würde dann wohl auf einen EU-Austritt ohne Abkommen zusteuern. Das Abkommen wird mit knapper Mehrheit abgelehnt: Nach außen hin setzt May alles auf eine Karte. Mein Deal, kein Deal oder kein Brexit, so ihre Devise. Doch Berichten zufolge wird längst für einen zweiten Wahlgang geplant. Sollte die Reaktion an den Märkten nach einer Niederlage der Regierung am 11. Dezember heftig ausfallen, könnten viele Abgeordnete kalte Füße bekommen und beim zweiten Mal anders abstimmen, so das Kalkül. May würde auch versuchen, Brüssel zumindest symbolische Zugeständnisse zur künftigen Beziehung abzuringen.
Doch Experten warnen, der Plan sei nicht ohne Risiko. Die Märkte könnten in Erwartung einer zweiten Abstimmung zunächst stabil bleiben. Der Schock-Effekt bei den Abgeordneten bliebe aus und sie könnten den Deal noch einmal durchfallen lassen. Dann wäre die Regierung wohl am Ende und das Land würde möglicherweise auf eine Neuwahl oder ein zweites Referendum zusteuern. Dafür müsste aber zunächst das Austrittsdatum verschoben werden. Auch die Gefahr eines Brexits ohne Abkommen wäre nicht gebannt.
Das Abkommen wird mit großer Mehrheit abgelehnt: Stimmt mehr als die Hälfte der Abgeordneten aus Mays Regierungspartei gegen den Deal, könnte bereits nach dem ersten Wahlgang für sie das politische Aus kommen. Der Politikwissenschaftler Simon Usherwood von der Uni Surrey hält für möglich, dass May zurücktritt. Dann müssten sich die Konservativen auf einen neuen Chef einigen. Völlig offen wäre, welche Richtung das Land einschlägt. Auch in diesem Szenario wären eine Neuwahl, ein zweites Referendum oder ein Brexit ohne Abkommen nicht ausgeschlossen.
Der Beschluss wird stark abgeändert und angenommen: Die größte Verwirrung könnte entstehen, wenn das Parlament den Beschlusstext für die Annahme des Austrittsabkommens so weit verändert, dass nicht klar ist, ob die Regierung das Abkommen unterzeichnen darf oder nicht. Ein Streit darüber könnte vor Gericht ausgetragen werden.