Totale digitale Überwachung

von Redaktion

In China unterscheiden Sozialpunktesysteme zwischen guten und schlechten Bürgern – Erstaunlich viele Chinesen befürworten das

Peking – Es sind Instrumente der totalen Überwachung: Das kommunistische China will bis 2020 landesweit ein Sozialpunktesystem der Behörden einführen, das Vertrauenswürdigkeit ermitteln und zwischen guten und schlechten Bürgern unterscheiden soll. Schon heute messen ähnliche kommerzielle Sozialkreditsysteme der großen Internetkonzerne Alibaba und Tencent die Kreditwürdigkeit von zig Millionen Internetnutzern. Es ist ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre. Westliche Kritiker warnen vor einem „digitalen Totalitarismus“.

Doch unter Chinesen gibt es dahingehend wenig Problembewusstsein: Das Sozialpunktesystem wird von der großen Mehrheit sogar positiv bewertet, wie eine neue Studie der Freien Universität Berlin ermittelt hat. 49 Prozent der 2209 Befragten äußern ihre „starke Zustimmung“, während 31 Prozent „irgendwie zustimmen“. Zusammen ergab die Online-Umfrage also 80 Prozent Zustimmung.

Nach Ansicht der Forscher, die auch Einzelinterviews führten, steckt dahinter eine Vertrauenskrise in Chinas Gesellschaft, wie auch 76 Prozent in der Umfrage bestätigten. Keiner traut dem anderen. Skandale um Nahrungsmittel oder aktuell um schadhafte Impfstoffe erschüttern jedes Mal neu den Glauben in die Fähigkeit der Aufsichtsorgane, das Leben der Menschen vor Betrügern und anderen „schlechten“ Menschen zu schützen. Korruption ist weit verbreitet. Behörden sind untätig. Es fehlt im kommunistischen System an einer unabhängigen Justiz, die für Gerechtigkeit sorgen könnte.

„Weil sie das Gefühl haben, niemandem trauen zu können, sind viele Menschen dem Sozialkreditsystem positiv gegenüber eingestellt“, sagt Professorin Genia Kostka, die Autorin der Studie. Es gibt Orientierung, bewertet nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen. „Die Regierung hat aber auch ein Interesse an der Sammlung dieser Daten“, sagt die Professorin. „Ihr geht es um soziale Kontrolle.“

Chinas Online-Riesen, die weltweit Vorreiter bei mobilen Zahlsystemen über Smartphones sind, sammeln heute schon fleißig Daten über Konsumverhalten und Zahlungskräftigkeit ihrer Kunden. So wird die Kreditwürdigkeit festgestellt, wobei auch der Punktestand der jeweiligen Freunde eine Rolle spielt. „In der Transformation in China hat sich das Kreditsystem der Banken und auch das regulatorische und rechtliche System zu langsam entwickelt“, schildert die Professorin. „Das sind Fehler, die im Prozess passiert sind.“ Privatleute bekommen bei Banken nur schwer kommerzielle Kleinkredite. Dafür aber über den Alibaba-Kreditarm Sesame Credit oder bei Tencent – auf der Grundlage der Punktezahl ihres Sozialkreditkontos.

Die Sozialpunktesysteme der Behörden hingegen sind zwangsweise. Doch sind sie erst in gut 40 Pilotprojekten im Land eingeführt. Auch hier ist ein hoher Punktestand als „guter“ Bürger notwendig, um bei der Bank einen Kredit zu einem normalen Zins für einen Wohnungskauf zu bekommen. Punktabzug gibt es für Regelverstöße, Verkehrsvergehen oder Zahlungsverzug bei Rechnungen. Allzu kritische Äußerungen in sozialen Medien könnten eines Tages auch dazu führen, dass jemand im Punktesystem nach unten rutscht, warnen Kritiker. Mit Spenden oder Freiwilligenarbeit lässt sich das Konto wiederum auffüllen.

Ohne eine freie Presse gibt es kaum ein Problembewusstsein. „Es gibt in den staatlich gelenkten Medien wenig kritische Berichterstattung“, schildert Professorin Kostka. Die Regierung verkauft das System mit dem Argument, Vertrauen schaffen zu wollen. „Da stellt sich die Frage, ob es ihr die Öffentlichkeit hier einfach abkauft, weil es als Ersatz für das schlechte Rechtssystem funktioniert.“ Dazu kommt: Seit jeher schnüffelt der kommunistische Staat im Privatleben herum. „Die Leute sind ohnehin daran gewöhnt, dass alles kontrolliert wird“, sagt Kostka. Andreas Landwehr

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