Fußball-Deutschland nach dem WM-Aus

Desillusioniert

von Redaktion

Bald läuft die Frist aus, in der Deutschlands Sportjournalisten den Fußballer des Jahres wählen können. In geraden Jahren warten sie meist bis zum Ende, um die Eindrücke einer EM oder WM einfließen zu lassen. Das könnte diesmal schwierig werden. Es gab in Russland keinen einzigen Kandidaten, der sich aufgedrängt hätte.

Ernüchterung ist ein zu schwacher Ausdruck für das Gefühl, das sich seit Mittwoch im Land ausbreitet. Es grenzt an totale Desillusionierung, was im Verhältnis zwischen Deutschlands besten Fußballern und dem Rest des Landes gerade zu beobachten ist. Vor der Abreise nach Russland, als die Zeichen auch schon nicht gut waren, stand das DFB-Team wenigstens noch in dem unzerstörbaren Ruf, eine Turniermannschaft zu sein, die sich selbst durch handfeste Formtiefs nicht vom Siegen abhalten lässt. Heute klingt es wie blanker Hohn.

Rückblickend ist in den vergangenen Monaten wenig bis gar nichts nach Wunsch gelaufen, und das verblüfft doch sehr, wenn man als Organisations-Weltmeister bekannt ist. Als wollten sie sämtliche Klischees konterkarieren, patzten die Deutschen auf allen Ebenen. Das Management wählte ein Quartier, das niemandem gefiel. Der Trainer fand keine Mannschaft. Die Spieler wiederum blieben im entscheidenden Moment den Nachweis ihrer Klasse schuldig, reagierten aber eingeschnappt, wenn ihnen dafür Kritik entgegenschlug. Ganz zu schweigen von der unsäglichen Erdogan-Aktion, die aus heutiger Sicht noch fataler und verantwortungsloser wirkt als im Mai – als sie auch schon vollkommen daneben war.

Es ist etwas kaputtgegangen. Die Deutschen und ihre Fußballer sind in eine Beziehungskrise gerutscht, nicht erst am Mittwoch. Fans sind leidensfähig, sie tolerieren auch abgehobenes Verhalten – aber nur, wenn die Ergebnisse stimmen. Ist das nicht mehr der Fall, verweigert der treueste Anhänger irgendwann die Gefolgschaft.

Marc Beyer

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