Wahlen in der Türkei

Erdogan erklärt sich zum Sieger

von Redaktion

Von Mirjam Schmitt und Christine-Felice Röhrs

Istanbul – Die Alten und die Eifrigen kamen früh. Die ersten Wähler standen am Sonntag schon mehr als eine Stunde vor Öffnung der Wahllokale an. Die Beteiligung liegt bei Wahlen in der Türkei oft um die 80 Prozent. Am Abend hieß es, dieses Mal könnten sogar mehr als 87 Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben. „Diese Wahlen sind wichtiger als alle anderen vorher“, sagen viele Menschen an den Urnen.

Vor allem die Präsidentenwahl hat das Land gespalten. Zum ersten Mal seit 16 Jahren hatte der Übervater der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, einen ernsthaften Konkurrenten. Muharrem Ince, ein telegener und witziger Redner, hatte im Wahlkampf dem Staatspräsidenten oft die Schau gestohlen. Bei Veranstaltungen kurz vor der Wahl waren Hunderttausende gekommen, um ihn zu sehen. Das Wort „Hoffnung“ war unter Oppositionsanhängern in Istanbul beliebt am Sonntag.

„Ich war neun Jahre alt, als Erdogan an die Macht kam – jetzt endet das hoffentlich“, sagte eine Studentin in einer Wahlstation in Cihangir, einem liberalen Viertel und ein Zentrum der Opposition. Sie hat gerade ihren Abschluss im Fach Stadtentwicklung gemacht, aber die Türkei, wie sie jetzt sei, biete ihr keine Zukunft, sagte sie. „Hier gibt es in meinem Fach keine Innovationen – nur Mega-Bauprojekte, die die Umwelt zerstören.“ Außerdem seien da zu wenige Jobs, und die würden auch noch schlecht bezahlt. „Wieso muss ich mich im Ausland bewerben?“, fragte sie.

Die Studentin hat Muharrem Ince gewählt. Aber sie ist eine der wenigen, die es offen aussprachen. Kaum jemand wollte sagen, wen er gewählt hat. Eine ältere Oppositionsanhängerin sagte, „lass uns da in die Ecke gehen“ und sprach dann mit gedämpfter Stimme. Ein junger Mann senkte jedes Mal, wenn er eine Partei erwähnte, die Stimme. Das Wort „AKP“ – der Name der regierenden Partei von Präsident Erdogan – flüsterte er fast.

Viele Oppositionsanhänger sagten, dass sie „strategisch“ wählen wollten. Sie haben also nicht automatisch nach ihrer Überzeugung gewählt, sondern für die Kombination, die am wahrscheinlichsten den ersehnten Wechsel an der Staatsspitze und im Parlament bringen sollte: Ince als Präsident und die pro-kurdische HDP fürs Parlament. Die HDP schien zunächst das Zünglein an der Waage zu werden. Viele hatten die Hoffnung, dass sie der AKP die Mehrheit im Parlament nehmen könnte, wenn sie über die Zehn-Prozent-Hürde springt.

Tatsächlich zog die HDP am Sonntagabend nach den am Abend vorliegenden Zahlen auch ins Parlament ein – aber weil die AKP ein Bündnis mit einer anderen Partei eingegangen war, sah es dank deren Sitzen zunächst so aus, als sollte sie weiter unangefochten im Parlament dominieren können.

Sogar Intellektuelle in Istanbul, die sonst eher die links-liberale CHP gewählt haben, stimmten diesmal für die HDP. Sie seien davon ausgegangen, dass in den Kurdengebieten im Südosten Menschen an der Wahl gehindert werden würden und wollten die „gestohlenen“ Stimmen ausgleichen, sagten einige vor der Abstimmung.

Tatsächlich kamen Berichte über Gewalt und Betrugsversuche unter anderem aus Dyarbakir und Suruc im Südosten des Landes. Das kurdisch geprägte Dyarbakir ist eine Hochburg der HDP. Istanbul ist wie andere Großstädte in weiten Teilen liberaler als der Rest des Landes. Die drei größten Städte Istanbul, Ankara und Izmir hatten schon beim Verfassungsreferendum 2017 mehrheitlich gegen Erdogans Plan gestimmt, das parlamentarische System durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Wer nur auf die Städte und die Kurdengebiete schaut, unterschätzt das große konservative Erdogan-Herzland und das, wofür Erdogan dort steht: für lange Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, auch wenn es jetzt wieder bergab zu gehen scheint.

Die letzten Umfragen waren teilweise so knapp ausgefallen, dass an den Urnen für Anhänger auf beiden Seiten klar war: Wir müssen gewinnen. Manche Wähler sagten es am Sonntag ausdrücklich, anderen deuteten es an: Wenn das nicht so kommt, dann war Betrug im Spiel. Nach Erdogans Siegesrede am späten Abend – wenn auch auf Basis „inoffizieller Ergebnisse“ – ist ein massiver Konflikt sicher.

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