Berlin – Nach dem Debakel bei der Bundestagswahl hat eine schonungslose Untersuchung der SPD-Spitze verheerende Fehler, Entfremdung von den Wählern und fehlenden Zusammenhalt bescheinigt. „In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Sozialdemokratie zu einem Sanierungsfall geworden“, heißt es in der dem Vorstand am Montag vorgelegten Analyse, die auf der Befragung von Ministern, Funktionären, Oberbürgermeistern, Wahlkämpfern und Beschäftigten im Willy-Brandt-Haus basiert. Trotz Ausgaben von rund 25 Millionen Euro holte die SPD mit Kanzlerkandidat Martin Schulz 2017 am Ende nur 20,5 Prozent, ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis.
Der im Februar zurückgetretene SPD-Chef Schulz hatte die Analyse nach der Wahl in Auftrag gegeben, frühere Wahlpleiten sind nie so systematisch aufgearbeitet worden. Die Fehleranalyse enthält deutliche Hinweise, dass vor allem der von 2009 bis 2017 agierende SPD-Chef Sigmar Gabriel für viele Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wird.
Die neue SPD-Chefin Andrea Nahles kündigte an, alles komme auf den Prüfstand. Nach früheren „Sturzgeburten“ will sie zudem die Frage des Kanzlerkandidaten vor der nächsten Wahl 2021 frühzeitig entscheiden. „Wir wollen die Spitzenkandidatur früher und geordneter klären.“ In Parteikreisen wurde zuletzt das Jahr 2019 für eine mögliche Klärung der Kandidatenfrage genannt, um einen Wahlkampf vernünftig vorzubereiten, womöglich ausgelagert aus dem Willy-Brandt-Haus. Neben Nahles gilt bisher vor allem Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz als denkbare Kandidatenoption.
Fehlendes Teamplay, schlechte Absprachen und eine nicht verfangende Gerechtigkeitskampagne – am Ende konnte die SPD selbst „Wahlberechtigte mit emotionaler Bindung zur Partei nicht ausreichend mobilisieren“, heißt es in der 108-seitigen Analyse. „Die lange offen gelassene Kandidatenfrage war ein Kardinalfehler“, sagte der frühere Spiegel-Journalist Horand Knaup, der die Studie unter anderem mit dem Wahlkampfexperten Frank Stauss erstellt hat. Erst Anfang 2017 hatte der damalige SPD-Chef Gabriel zugunsten von Schulz verzichtet, dessen Stern aber schnell verglühte. Auch weil Positionen mit Rücksicht auf alle möglichen Gruppen verwässert worden seien.
Wahlforscher kommen zu dem Schluss, dass die SPD eine „Volkspartei ohne Volk“ sei, zudem wird eine ziellose Kampagne mit immer neuen Themen kritisiert. Ein „riesiges Kommunikationsloch“ habe dazu geführt, dass Botschaften nicht ankamen. Besonders unprofessionell sei der Umgang mit Regionalzeitungen gewesen. So wollte eine große ostdeutsche Zeitung ein Interview mit Schulz führen und sollte dafür Reporter hunderte Kilometer entfernt nach Frankfurt schicken, weil Schulz da vielleicht Zeit hätte.
Bis Sommer werden laut Nahles die Strukturen in der Parteizentrale von einem Dienstleister durchleuchtet. Sie kündigte eine Klärung der unterschiedlichen Positionen an, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik, wo Teile der Partei für offene Grenzen sind und andere eine Begrenzung fordern, damit die AfD nicht noch mehr an Zulauf gewinnt. „Es fehlte ein klarer Kurs“, so Nahles. Sie hatte zuletzt gesagt: „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen.“ Eigentlich eine simple Tatsache, aber wie schwer die Klärung wird, zeigte der Berliner Landesverband, der Nahles daraufhin „rechte Rhetorik“ vorwarf. Gabriel begrüßte Nahles’ Kurs. „Ich kann nur allen raten, sich die Lebenswirklichkeit im Land sehr aufmerksam anzuschauen.“ Georg Ismar