Rom – Die Bilder von der „Aquarius“ offenbarten das ganze Ausmaß des moralischen Dilemmas, in dem Europa steckt. 629 Menschen harren dicht gedrängt auf Deck aus, darunter schwangere Frauen und Kleinkinder. Aufgegriffen wurden die Migranten in Gummibooten vor der libyschen Küste; sie stammen vornehmlich aus Afrika. Proviant und Treibstoff reiche noch für maximal 48 Stunden, so die Besatzung der Hilfsorganisation SOS Mediterranée gestern. Doch Hardliner Matteo Salvini, der starke Mann im neuen Kabinett, will ein Exempel statuieren.
Die Aquarius darf auf dem Stiefel nicht anlegen. Auch das nahe liegende Malta weigerte sich, die Flüchtlinge anlanden zu lassen. Angesichts der dramatischen Lage erklärte sich Spaniens neue sozialistische Regierung kurzfristig bereit, das Rettungsschiff aufzunehmen.
Ein diplomatisches Tauziehen auf dem Rücken von Menschenleben. Auf dem Spiel steht die ganze bisherige Praxis der Seenotrettung und der europäischen Asylpolitik. Salvini verteidigt seine Position. „Es reicht! Leben in Seenot zu retten ist zwar eine Pflicht, Italien in ein gigantisches Flüchtlingslager umzuwandeln jedoch nicht. Wir werden nicht länger das Haupt senken und gehorchen. Ab jetzt sagen wir Nein“, so schreibt er in einem Tweet. Gemünzt ist die Aussage klar auf die mangelnde Solidarität der europäischen Partner, die trotz aller Lippenbekenntnisse kaum dazu beigetragen haben, den enormen Migrationsdruck auf Italien abzumildern.
Moralische Vorhaltungen lässt die neue Populisten-Regierung nicht gelten. Mehr als 600 000 Flüchtlinge seien in den vergangenen Jahren aus Seenot gerettet und sicher ans italienische Festland gebracht worden, rechnet Verkehrsminister Danilo Toninelli von der Fünf-Sterne-Bewegung vor. In der Tat ist Italien seit mehr als zehn Jahren Hauptlastenträger der Migrationsströme über das Mittelmeer. Seit Langem fordern wechselnde römische Regierungen mehr Solidarität von den EU-Partnern ein, so etwa eine gemeinsame europäische Küstenwache. Die Regelung, wonach jeder EU-Mitgliedstaat seine Grenzen selbst zu schützen habe, sei Makulatur. Mit seinem harten Kurs erhöht Salvini nun den Handlungsdruck auf die EU. Zumindest in Berlin scheint man zu reagieren. Innenminister Horst Seehofer wolle sich baldmöglichst mit seinem neuen Amtskollegen treffen; das berichten diplomatische Kreise in Rom.
Die Zeit drängt: Auf der Mittelmeerroute werden seit zwei Wochen ungewöhnlich viele Schleuseraktivitäten registriert. Beobachter fürchten eine neue Flüchtlingswelle. Seit dem Regierungswechsel und dem wochenlangen Machtvakuum in Rom fühlen sich die rivalisierenden Regierungen und Milizen in Libyen offenbar nicht mehr an die bilateralen Vereinbarungen mit Italien gebunden, die den Migrationsdruck fast ein Jahr lang erheblich gemildert hatten. Dafür war über geheime Kanäle viel Geld geflossen.
Salvinis Pose des starken Mannes scheint bei Italiens Wählern gut anzukommen. Bei landesweiten Kommunalwahlen am Sonntag konnte die Rechte unter Führung der Lega überall erheblich zulegen und wichtige Städte für sich erobern. Eine herbe Schlappe erlitten die Grillini.