Berlin – Es ist eine ungewöhnlich selbstkritische Rede, die Angela Merkel zum Start in ihre vierte und wohl letzte Amtszeit hält. Die Kanzlerin räumt ein, „dass sich in unserem Land ganz offenkundig etwas verändert hat“. Sie geht auf die Sorgen der Menschen ein, die ihre Flüchtlingspolitik kritisch sehen, und als deren Sprachrohr sich die AfD im Wahlkampf angeboten hat. „Im Rückblick naiv“ sei es gewesen, zu glauben, die Flüchtlingskrise werde Deutschland nicht erreichen. Als Begleitmusik ihrer Rede sind im Bundestag vereinzelt hämische Zwischenrufe aus den AfD-Reihen zu hören. Sehr lange arbeitet die Kanzlerin 4.0 in ihrer ersten Regierungserklärung die Folgen dieser Krise auf, die sie fast um das Amt gebracht hätte. Wie ein roter Faden zieht sich ein Gedanke durch ihre Sätze: die Sorge um schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft.
Diese Spaltung, sie spiegelt sich auch in den skeptischen Mienen der FDP-Abgeordneten und im höhnischen Gelächter der AfD, als Merkel sagt, Migranten ohne Bleiberecht müssten Deutschland verlassen, „notfalls auch durch staatlich angeordnete Rückführung“. Merkels Rede klingt in weiten Passagen nach Verteidigung – nur selten findet die CDU-Vorsitzende einen Ton, der Aufbruch verspricht.
Olaf Scholz, kommissarischer SPD-Chef und Merkels Vizekanzler, der sich zu Beginn ihrer Rede noch mit seinem Smartphone beschäftigt, hört jetzt intensiv zu. Den ersten Beifall aus den Reihen der Koalitionäre bekommt die Kanzlerin erst, als sie sagt, Deutschland habe jene Menschen aufgenommen, die von der internationalen Gemeinschaft vergessen worden seien. Doch viele Abgeordnete von CDU, CSU und SPD klatschen auch nicht – das wird Merkel kaum entgangen sein.
Auf der Regierungsbank sitzt CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer neben Scholz, dem neuen Finanzminister. Beide verschränken während Merkels Rede unisono die Arme, stützen den Kopf auf die Hand. Das sind Körperhaltungen, die für Abwehr und Skepsis stehen. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und der neben ihm sitzende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) tuscheln miteinander.
Dann ist Oppositionsführer Alexander Gauland an der Reihe. Es ist ein Moment, auf den der AfD-Fraktionsvorsitzende lange gewartet hat. Auch bei ihm steht die Flüchtlingsfrage im Zentrum. Er sagt: „Es gibt keine Pflicht zu Vielfalt und Buntheit, es gibt auch keine Pflicht, meinen Staatsraum mit anderen Menschen zu teilen.“ Gauland hält eine Rede mit Schärfe – aber ohne Tabubruch und ohne die schrillen Töne, die man sonst von der AfD hört.
FDP-Chef Christian Lindner, der Merkel mit seinem Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen im November in Bedrängnis gebracht hat, denkt am Rednerpult schon einmal laut über das Ende ihrer Kanzlerschaft nach – und über Merkels Vermächtnis. „Der Charakter Ihrer Kanzlerschaft ist offen“, ruft er ihr zu. Merkel lässt das abperlen, tippt auf ihrem Handy herum.
Einen Seitenhieb hat Lindner noch für die ungeliebte Kanzlerin parat: Die Jamaika-Gespräche mit Union und Grünen hätten ihn geradezu traumatisiert. Dafür fängt er sich eine Retourkutsche von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter ein: Man habe Lindners Rede „angemerkt, dass Sie Ihr Trauma noch nicht überwunden haben“.
Merkel spart ein Thema nicht aus, das gleich nach ihrer Vereidigung für Ärger gesorgt hat. Sie sagt, dass „der Islam inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist“. Seehofer blättert bei diesen Worten heftig im Stapel weißer Karteikarten vor sich. Merkel dürfte auch ihn meinen, als sie betont: „Ich weiß, dass viele ein Problem damit haben, diesen Gedanken anzunehmen. Und das ist auch ihr gutes Recht.“
Seehofer war schon 20 Minuten vor Beginn der Debatte langsam, ohne sichtbare Gemütsregung in den Bundestag gekommen. Er grüßt in den Saal, lächelt viel. Es wirkt, als müsse er sich erst einmal wieder an das Gefühl gewöhnen, in Berlin auf der Regierungsbank zu sitzen. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles demonstriert dagegen vor allem Einigkeit mit Merkel und der Union. Ganz in schwarz gekleidet, nimmt sie die Grundmelodie der Kanzlerin auf. Nahles spricht ebenfalls oft von Zusammenhalt – in Europa, in der Gesellschaft, im Sozialen und beim Thema Gesundheit.
Jörg Blank/ Anne Batrice Clasmann