Zwischen Prinzipientreue und Verantwortungsverweigerung liegt nur ein schmaler Grat. Und ein erfahrener Polit-Alpinist wie Christian Lindner weiß um die Gefahr, bei diesem Balanceakt abzurutschen. Das Stahlgewitter, das der FDP-Chef durchschreitet, seit er das Jamaika-Bündnis in letzter Minute platzen ließ, ist nicht spurlos an dem jungen FDP-Chef vorbeigezogen. Mit der nun bekundeten Bereitschaft, sich nach möglichen Neuwahlen einem zweiten Anlauf in Richtung eines Jamaika-Bündnisses nicht zu verweigern, bringt sich Lindner aus der Gefahrenzone – und seine FDP geschickt zurück ins Spiel.
Tatsächlich war die Schmollecke noch nie der Platz, wo sich Liberale auf Dauer besonders wohlfühlen. Denn die werden, anders als Grüne oder Linke, nicht für ihre hehren Ideale gewählt – sondern dafür, die Interessen ihrer Klientel durchzusetzen. Und was die SPD gerade der Union mit ihren überzogenen Forderungen abzupressen versucht – Einheitskrankenversicherung, Euro-Budget und vieles mehr – ist aus Sicht der FDP und ihrer Sympathisanten Teufelszeug. Daran will der FDP-Chef am Ende nicht schuld sein.
Mit Lindners Schachzug liegen nun alle Optionen wieder auf dem Tisch. Dazu gehören neben der ungeliebten GroKo und einer Minderheitsregierung auch die von fast allen Parteien bisher ausgeschlossenen Neuwahlen. Die wiederbelebte Aussicht auf Schwarz-Gelb-Grün erlaubt es CDU und CSU, der SPD, die derzeit eher einer Selbsthilfegruppe als einer Regierungspartei ähnelt, in den Sondierungen mit größerer Härte zu begegnen. Schon möglich, dass daraus eine neue Dynamik entsteht, das Volk ein zweites Mal an die Urnen zu rufen. Schmiedete Merkel danach ihre Jamaika-Koalition, müsste sich die FDP jedenfalls nicht den Vorwurf gefallen lassen, nicht mit vollem Einsatz für ihre Ziele gekämpft zu haben.
Georg Anastasiadis
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