Bücher raten in der U-Bahn

von Redaktion

GÜNTER KLEIN

Statt einer schlichten Fahrgastzählung in den öffentlichen Verkehrsmitteln könnte man doch auch mal eine Lesen-Fahrgäste-und-falls-ja-welches-Medium-Zählung machen. Würde mich interessieren: vor allem der Anteil derer, die sich noch ganz altmodisch in ein Buch vertiefen. In eines aus Papier.

Ich bin sensibilisiert in dieser Hinsicht. Nichts gibt so sehr Auskunft über die eigene Person wie das Buch, mit dem man sich blicken lässt. Ich hatte da einen sehr prägenden Leistungskurs-Deutsch-Lehrer, der sagte, dass er in fremden Wohnungen seinen Blick immer zuerst über die Bücherwand schweifen lasse, damit er wisse, mit wem er es zu tun habe. Nach dem Abitur 1981 habe ich ihn immer wiedergetroffen und einmal leichtfertig gefragt, ob Patrick Süskinds „Parfüm“ mittlerweile Schullektüre sei. Vernichtender Blick. „Reines Lesefutter, da gibt’s nichts zu interpretieren.“ Man muss wissen, dass mein Deutsch-Lehrer sich damit brüstete, in stetem Briefkontakt mit der Lyrikerin Gabriele Wohmann zu stehen und für renommierte Zeitungen Rezensionen zu schreiben, wenn ein Buch über einen bestimmten römischen Gartenbauschriftsteller aus der Kaiser-Nero-Zeit (sein Fachgebiet) erschienen war.

Seit dem Süskind-Lapsus begleitete mich über Jahrzehnte die Angst, meinem Ex-Lehrer in der Bahn oder im Bus zu begegnen und gerade irgendwas Seichtes in Händen zu halten. Es kam aber nur einmal vor, dass wir im Zug aufeinandertrafen. Mir entging nicht, wie sich sofort sein Kopf neigte und er aufs Cover meines Buches blickte. Ich hatte Glück an jenem Tag und nicht etwa einen Krimi des ihm unbekannten Autorenduos Douglas Preston/Lincoln Child dabei, sondern Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“, ein Standardwerk der politischen Literatur – ich war aus dem Schneider.

Mein Pauker verstarb vor etwa fünf Jahren, er ordnet jetzt die Bibliothek des lieben Gottes – doch die Angst, mit einem nicht imagefördernden Buch in der U-Bahn gesichtet zu werden, begleitet mich. Allerdings bin auch ich einer, der spechtet, was andere lesen – so man denn einen Buchleser ausfindig macht inmitten des reisenden Smartphone-Volks. Ich spiele dann mit mir selbst ein Quiz, indem ich versuche, von der Person aufs literarische Genre zu schließen. Das Herz geht mir auf, wenn ein studentenalter Mensch ein abgewetztes Suhrkamp- oder dtv-Buch aufschlägt. Ich bin also so geworden, wie mein Deutsch-Lehrer war.

Ich wertschätze auch den E-Reader. Ein praktisches und erstaunliches Gerät – doch leider schließt es das Ratespiel aus. Man müsste schon den Hals recken und versuchen, mitzulesen – was aber sehr indiskret ist. Dennoch: E-Book schlägt Smartphone. Um Längen.

Sie erreichen den Autor unter Guenter.Klein@ovb.net

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