Jeder dürfte sich erinnern, wie und wo er im vergangenen Jahr den 25. Dezember, also den ersten Weihnachtsfeiertag, verbracht hat. Beim 9. Mai 2018 wiederum würden sich vermutlich Gedächtnislücken auftun. Beide Daten stellen markante Tage im Münchner Verkehrsgeschehen dar: Der Weihnachtsfeiertag war im Vorjahr der stauärmste Tag in München, der 9. Mai – ein Mittwoch vor dem Feiertag Christi Himmelfahrt – der staureichste.
Dies ist ein Ergebnis des aktuellen TomTom-Traffic-Index. Der Spezialist für Navigationssysteme hat weltweit zig Millionen Daten von Autofahrern ausgewertet und unter anderem ein Stau-Ranking erarbeitet. Das Fazit ist zwiespältig. Die gute Nachricht: Weltweit gesehen sind die Münchner Verkehrsprobleme eher harmlos. Die bayerische Metropole liegt beim Stau-Niveau nur auf Platz 110 bei 403 untersuchten Städten. Die schlechte Nachricht: Tendenziell müssen die Autofahrer immer mehr Geduld aufbringen, denn die Staubelastung im Tagesdurchschnitt hat gegenüber 2017 zugenommen. Der Münchner Index beträgt 30 Prozent, 2017 waren es noch 28 Prozent. Das heißt, die zusätzliche Reisezeit ist um 30 Prozent höher als bei freiem Verkehrsfluss. Zum Vergleich: Die weltweite Nummer eins Mumbai weist einen Wert von 65 Prozent auf, Moskau 56 Prozent, Paris 36 Prozent und Hamburg als deutscher Spitzenreiter 33 Prozent.
Zur Rushhour morgens und abends steigt das Stauniveau in München beträchtlich auf 55 beziehungsweise 58 Prozent. Anders ausgedrückt: Eine Fahrt, die ohne Verkehrsbehinderungen 30 Minuten dauert, nimmt zur Hauptverkehrszeit rund 47 Minuten in Anspruch. Am 9. Mai 2018 lag der Index übrigens bei 60 Prozent, am 25. Dezember 2018 bei nur sechs Prozent. Über das Jahr betrachtet mussten Pendler aus dem Raum München am Montagmorgen und am Donnerstagabend die besten Nerven beweisen – insgesamt verloren sie 113 Stunden im Stau. Die entspanntesten Zeiten waren am Freitagmorgen. Letzteres spricht eindeutig für einen in der Arbeitswelt erkennbaren Trend zur Vier-Tage-Woche, zum Home Office respektive zu verlängerten Wochenenden.
Die staureichsten Straßen hat TomTom auch ausfindig gemacht: Besonders chaotisch ging es 2018 auf der Einsteinstraße, dem Innsbrucker Ring, der Prinzregentenstraße, dem Frankfurter Ring und der Kapuzinerstraße zu. Gerade die Situation auf der Kapuzinerstraße ist verkehrspolitisch interessant. Die Stadt hatte dort vor einigen Jahren eine Fahrspur zugunsten der Radler weggenommen. Seither kommt der Verkehr zur Rushhour regelmäßig zum Erliegen. Schleichwege werden im Übrigen auf dem Navi nur angezeigt, wenn die Ausweichroute wirklich schneller wäre, als im Stau zu stehen. Auf Wohngebiete wird nicht verwiesen.
Experte Ralf-Peter Schäfer von TomTom warnt eindringlich vor einem Verkehrsinfarkt, sollten die Pendlerströme weiterhin in diesem Ausmaß zunehmen. Und er sieht einen unweigerlichen Zusammenhang zwischen den explodierenden Mietpreisen und der Staufalle. Wenn immer mehr Menschen außerhalb wohnten und dann mit dem Auto nach München pendelten, sei niemandem geholfen. Die Trennung von Wohnort und Arbeitsstätte spiele eine große Rolle bei den zunehmenden Verkehrsproblemen. Fahrgemeinschaften und den Ausbau des ÖPNV hält er für zwingend notwendig, um das Chaos zu entzerren. Schäfer rät jedoch von Radikallösungen ab. „Der Modal Split muss in einem Gleichgewicht sein.“ Dies sei die wichtigste Aufgabe der Verkehrsplanung. Modal Split bezeichnet die prozentuale Verteilung der Verkehrsmittel Auto, ÖPNV, Radfahrer und Fußgänger.
In München ist der Anteil der mit dem Fahrrad zurückgelegten Fahrten im Zeitraum von 2008 bis 2017 von 14 auf 18 Prozent gestiegen, der Anteil der Autofahrten hingegen hat sich von 37 auf 34 Prozent reduziert, während die ÖPNV-Quote ebenfalls von 21 auf 24 Prozent gestiegen ist. Allerdings ist der Anteil des motorisierten Individualverkehrs im Münchner Umland sogar von 57 auf 58 Prozent gestiegen. Als Hintergrund für diese Zahlen muss man wissen, dass die absolute Zahl der Fahrzeuge in den vergangenen zehn Jahren drastisch gestiegen ist – allein in München selbst gibt es seitdem gut 100 000 Kfz mehr. Die Zahl der Einpendler ist seit 2008 von 314 000 auf 383 000 gewachsen. Für den Verkehrsexperten Schäfer ist klar: „Das Straßennetz ist für so eine hohe Zahl an Autos nicht konzipiert und stößt an seine Grenzen.“
Die Beweisführung für diesen Satz erfolgte erst vor wenigen Tagen wieder: Am 29. Mai – es war erneut der Tag vor Christi Himmelfahrt – brach der Verkehr in München am Abend komplett zusammen.