Der große Schmerz verlassener Großeltern

von Redaktion

Streit, Entfremdung, Eifersucht: Die Gründe, warum Großeltern den Kontakt zu ihren Enkeln verlieren, sind zahlreich. Aber eines eint alle: Die betroffenen Omas und Opas knabbern sehr an ihrem Schicksal – vor allem so kurz vor Weihnachten.

VON ANJA REITER

Geblieben sind Monika S., 69, nur Erinnerungen an Timo, ihren Enkelsohn. Nonna“ habe er sie immer genannt. Monika S. hat Fotos vom Ausflug zur Fraueninsel. Bilder aus dem Wildpark. „Das war so ein süßer Fratz“, sagt sie. „Ein Traum von einem Kind!“ Doch seit mehr als acht Jahren hat Monika S. ihren Enkelsohn nicht mehr gesehen. Ein Schmerz, der tief sitzt.

Der Schwiegersohn schirmt die Großmutter von ihrer Tochter und ihrem Enkelsohn ab. „Wenn ich anrufe, läuft immer der Anrufbeantworter“, sagt Monika S. Unzählige Briefe und Weihnachtspäckchen blieben unbeantwortet. Die Gründe kennt die Großmutter nicht. Möglichkeit zur Aussprache? Gab es nie. Seit fast einem Jahrzehnt brütet Monika S. also immer wieder über derselben Frage: Werde ich Timo jemals wiedersehen?

Oma und Opa – im Leben der meisten Kinder spielen die Großeltern eine wichtige Rolle. „Die Frage nach den eigenen Wurzeln ist zentral für jedes Kind“, sagt auch Hans Dusolt, Psychologe und Familientherapeut. „Der Kontakt zu den Großeltern ist ein wichtiger Bestandteil der Identität und des persönlichen Selbstverständnisses.“

Sind die Großeltern wichtige Bezugspersonen im Leben ihrer Enkelkinder, haben sie laut Gesetz auch ein Recht darauf, ihre Enkelkinder zu sehen. Dann darf der sorgeberechtigte Elternteil nicht ohne triftigen Grund den Kontakt unterbinden. „Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Umgang dem Wohl des Kindes dient“, sagt Experte Dusolt. Er empfiehlt Betroffenen, sich vorerst um eine persönliche Aussprache zu bemühen, ohne gleich mit rechtlichen Mitteln den Umgang zu erstreiten. Wichtig sei es, die Perspektive der Eltern einzunehmen. „Großeltern müssen die Verantwortung für die Erziehung bei den Eltern lassen, auch wenn das manchmal schwerfällt.“

Kommt man im Zwiegespräch nicht weiter, könnte im nächsten Schritt ein professioneller Therapeut oder Mediator helfen. In keinem Fall aber sollte man sich in das eigene Rechthaben verbohren – wichtiger sei die Frage: Was könnte für das Kind die bestmögliche Lösung sein? „Wer befürchtet, dass der Konflikt zur Zerreißprobe für das Kind werden könnte, sollte sich besser nicht auf sein Recht versteifen“, sagt Dusolt.

Das würde auch Richard F., 68, nie machen. Nur dank „Facebook“ weiß er, dass er mehrfacher Opa ist. Seine Enkelkinder hat er noch nie getroffen. Seit seiner Scheidung vor 22 Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu seinen leiblichen Kindern. Damals führte ein Scheidungskrieg zum Kontaktabbruch. Heute sei die Scheu zu groß, sich bei der Familie zu melden. „Ich bin arm und kann ihnen nichts bieten“, sagt Richard F.

Eineinhalb Jahre lang war Richard F. obdachlos und lebte auf der Straße; heute bewohnt er ein kleines Zimmer in einer Seniorengemeinschaft. Weil seine bescheidene Rente kaum zum Leben reicht, wird er vom Verein Lichtblick Seniorenhilfe unterstützt. Feiertage, Wochenenden, Weihnachten – Richard F. verbringt die meiste Zeit allein.

Immer wieder machen ihm depressive Verstimmungen zu schaffen. Besonders schlimm sei die Einsamkeit im Advent: „Zu Weihnachten sind alle bei ihrer Familie“, sagt er leise. Dann fragt sich auch Richard F.: Soll ich mich bei meiner Familie melden? Aber bisher hat immer der Stolz gesiegt – und die Angst vor der Reaktion der Familie nach so vielen Jahren. Auch dieses Weihnachtsfest wird er nicht im Kreis seiner Nächsten verbringen.

Wie Richard F. und Monika S. geht es vielen „verlassenen“ Großeltern in ganz Deutschland. Die Ursachen für Beziehungsabbrüche sind so vielfältig wie die einzelnen Schicksale. Nicht immer sind neue Partner oder Scheidungen ausschlaggebend. „Häufig spielen nicht geklärte Konflikte aus der Kindheit oder Jugend der frischgebackenen Eltern eine tragende Rolle“, sagt Experte Dusolt. In anderen Fällen befeuern unterschiedliche Vorstellungen in Erziehungsfragen den Konflikt.

In der Regel würden Generationenkonflikte jedoch häufig nach einem ähnlichen Muster ablaufen, erklärt Dusolt: „Eine Seite hat das Gefühl, von der anderen Generation nicht ausreichend respektiert, ernst genommen und gesehen zu werden.“

Auch Monika S. vermisst ihren Enkel Timo in der Adventszeit ganz besonders. Dann denkt sie daran, wie sie mit ihrer eigenen Familie früher um den Adventskranz saß. „Meine Großeltern haben mir so viel Wissen weitergegeben“, sagt Monika S. „Es ist so schade, dass ich heute nicht für meinen Enkelsohn da sein kann.“ Doch die Hoffnung, Timo irgendwann wiederzusehen, hat sie noch nicht aufgegeben. In sechs Jahren wird er volljährig. Vielleicht kommt er dann zu ihr …?

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