„Depressionen sind keine Willensschwäche“

von Redaktion

EXPERTEN-INTERVIEW Constanze von Nippold berät Rentner, die keinen Ausweg mehr sehen

Sozialpädagogin Constanze von Nippold berät ältere Menschen mit Depressionen beim geronto-psychiatrischen Dienst der Caritas in München. In unserem Experten-Interview spricht sie über die Ursachen und Symptome von Altersdepressionen – und das Prinzip der stellvertretenden Hoffnung.

Was sind die häufigsten Auslöser für Altersdepressionen?

Depressionen im Alter treten häufig in sogenannten Lebensveränderungskrisen auf: beim Wechsel vom Berufsleben in die Rente oder beim Tod von Angehörigen. Zu einer Krise kann es auch kommen, wenn die Kinder in andere Städte ziehen – oder wenn durch eine Krankheit die Mobilität eingeschränkt wird. Generell sind körperliche Erkrankungen im Alter ein häufiger Auslöser für Depressionen.

Welche Rolle spielen finanzielle Sorgen?

Geld kann eine massive Rolle spielen! Bei finanziellen Sorgen entstehen existenzielle Ängste, die Depressionen begünstigen. Man kann hier aber keinen kausalen Zusammenhang herstellen. Es gilt nicht automatisch: Wenn ich wenig Geld habe, bekomme ich eine Depression.

Wie unterscheide ich eine ernst zu nehmende Depression von einer Verstimmung?

Oft hört man von Außenstehenden: „Mensch, reiß dich doch mal zusammen, du hast es doch gut!“ Depressionen sind aber keine Willensschwäche, sondern ernsthafte Erkrankungen. Sie haben Auswirkungen auf den Körper, die Gefühle, das Denken, auf soziale Kontakte. Rückzug oder eingeengtes Denken können Alarmsignale sein. Zu den emotionalen Symptomen zählen Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeitsgefühle, Ängste. Betroffene leiden zudem oft an Erschöpfung, Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit. Weil Depressionen auch häufig mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen einhergehen, werden sie im Alter oft mit einer Demenz verwechselt.

Was tun, wenn ich an solchen Symptomen leide?

Eine erste Anlaufstelle kann ein geronto-psychiatrischer Dienst sein. Diese Stellen bieten ein niederschwelliges Angebot: Angehörige, Nachbarn oder Ärzte melden Betroffene bei uns an – und wir vereinbaren einen Termin. Weil viele unserer Klienten Mobilitätseinschränkungen haben, machen wir zu etwa 80 Prozent Hausbesuche. Wir besprechen die Situation mit den Betroffenen und entscheiden dann gemeinsam über eine Lösung. Das heißt: Wir finden zum Beispiel einen Psychiater oder helfen den Klientinnen und Klienten dabei, eine Therapie zu beginnen. Oft helfen wir auch beim Aufbau einer sinnvollen Tagesstruktur, suchen Gruppenangebote zur Ablenkung oder verweisen an die Alten- und Servicezentren.

Oft heißt es: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr …

Auch im Alter kann man sich noch ändern! Je früher man etwas gegen eine beginnende Depression tut, desto besser sind die Heilungschancen. Wer Hobbys hat – ob Tanzen, Chorgesang oder Gassigehen mit dem Hund –, hat seltener Depressionen. Eine Möglichkeit zur Heilung im Anfangsstadium sind die sogenannten Balancegruppen, ein Trainingsprogramm für depressive Verstimmungen, das alle Alten- und Servicezentren anbieten. Ist die Depression schwerwiegend, kann eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie helfen.

Wann ist ein stationärer Aufenthalt notwendig?

Generell gilt: ambulant vor stationär. Die ambulante Behandlung ist dem Klinikaufenthalt vorzuziehen. Wenn jedoch Suizidgedanken aufkommen, ist ein stationärer Aufenthalt manchmal unausweichlich. Wer hier unsicher ist, kann sich an die telefonische Hotline des Krisendienstes Psychiatrie wenden. Viele Ratschläge lassen sich besser umsetzen, wenn man finanziell abgesichert ist.

Was raten Sie Menschen mit Altersdepression, die kaum Geld haben?

Viele Angebote der Alten- und Servicezentren sind kostenlos, genauso die Beratung durch den geronto-psychiatrischen Dienst. Angebote wie KulturRaum München unterstützen Menschen mit wenig Einkommen dabei, sich einen Theater- oder Konzertbesuch zu leisten, um auf andere Gedanken zu kommen. Nicht zuletzt bieten Vereine wie LichtBlick e.V. günstige Ausflugsmöglichkeiten für Ältere mit geringem Einkommen an.

Was sollten Außenstehende im Umgang mit Altersdepressiven beachten?

Gutgemeinte Ratschläge oder die Aufforderung, sich zusammenzureißen, helfen nicht. Angehörige sollten besser darauf achten, dass Betroffene einen gewohnten Tagesablauf haben und gezielt entlastet werden. Außerdem: Mut machen – aber nicht erwarten, dass der Betroffene den Mut teilt. Man nennt dies das Prinzip der stellvertretenden Hoffnung. Ich sage dann meistens zu den Klienten: „Ich weiß, dass es schwierig ist, daran zu glauben – aber irgendwann wird es Ihnen besser gehen.“

Interview: Anja Reiter

Artikel 7 von 9