In Deutschland steigen die Behandlungszahlen der alkohol- und medikamentensüchtigen über 60-Jährigen. Trotzdem ist wenig über Sucht im Alter bekannt, denn Senioren wissen ihre Abhängigkeit gut zu verbergen. Prof. Peter Brieger, ärztlicher Direktor am Isar-Amper-Klinikum in Haar und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt im Gespräch, warum die Scham gerade bei Senioren so groß ist und was sie bei der Einnahme ihrer Medikamente beachten sollten.
-Warum bleibt eine Sucht bei älteren Menschen oft unbemerkt?
Einmal, weil sie gar nicht im Bewusstsein der öffentlichen Wahrnehmung ist. Und zum anderen laufen ältere Menschen eher selten zum nächsten Kiosk an der Ecke und stellen sich dort mit der Bierflasche hin. Sie trinken oder nehmen ihr Suchtmittel eher im Verborgenen. Die Heimlichkeit spielt bei Senioren eine große Rolle.
-Eine Flasche Bier am Tag macht einen nicht zum Alkoholiker. Ab wann gilt jemand als abhängig?
Von einer Abhängigkeit spricht man, wenn der Betroffene von einer bestimmten Substanz nicht mehr lassen kann, wenn er also Entzugssymptome entwickelt und ein unstillbares Verlangen nach der Substanz hat. Außerdem ist meist sein Denken und Handeln danach ausgerichtet. Eine Sucht besteht dann, wenn die Abhängigkeit ein bestimmtes Ausmaß erreicht.
-Warum rutscht mancher noch spät im Leben in die Sucht?
Das liegt oft an den sozialen Bedingungen. Beispielsweise leben manche Senioren sehr einsam, haben kaum soziale Kontakte oder auch oft Depressionen. Diese Menschen nehmen oft Suchtmittel wie Alkohol oder Benzodiazepine, also Beruhigungsmittel, als Seelentröster.
-Gibt es auch andere Wege hineinzurutschen?
Auch ärztlicherseits werden manchmal bestimme Medikamente zu unkritisch oder zu lange verordnet. Das betrifft besonders Beruhigungsmittel, vor allem Medikamente gegen Schlafstörungen. Neuerdings sehen wir auch, dass zunehmend unkritisch Opiate verordnet werden.
-Greifen Frauen und Männer zu unterschiedlichen Suchtmitteln?
Männer tendieren mehr zu Alkohol, Frauen zu Beruhigungsmitteln. Aber seit geraumer Zeit gleicht sich das an. Man weiß aber nicht, warum. Anders als bei den Daheim-Wohnern geht es bei den Heimbewohnern meistens um die ärztlich verordneten Suchtmittel. Wobei in manchen Heimen auch Alkohol toleriert wird. Aber hier kann man sich nicht so hemmungslos betrinken, ohne das es sofort auffällt. Die Heimlichkeit ist größer als bei jemandem, der in der eigenen Wohnung lebt.
-Viele Ältere nehmen verschreibungspflichtige Medikamente. Was müssen sie beachten?
Problematisch sind verschreibungspflichtige Medikamente, die ein Suchtpotenzial haben. Als Laie kann ich das auf dem Beipackzettel lesen. Dann darf man dieses Medikament beispielsweise nicht länger als sechs Wochen einnehmen. Das betrifft viele Medikamente, die zum Schlafen eingenommen werden wie Diazepam, Valium oder Tavor. Auch die sogenannten Z-Substanzen wie Zopiclon und Zolpidem, die eingeführt wurden, weil sie weniger abhängig machen als Benzodiazepine, sollten nicht auf Dauer genommen werden.
-Kann man von einer niedrigen Dosis Benzodiazepinen abhängig werden?
Es gibt die sogenannte Niedrig-Dosis-Abhängigkeit. Die Betroffenen brauchen hier keine Dosis-Steigerung – was normalerweise bei einer Sucht der Fall ist. Dennoch besteht eine körperliche Abhängigkeit und es kommt zu Entzugssymptomen, wenn man sie absetzt. Auch eine – zumindest psychologische – Gewöhnung von frei verkäuflichen Schlafmitteln ist möglich. Hier steht das aber auch auf dem Beipackzettel.
-Wenn der Arzt einen warnt und ein anderes Medikament verschreibt: Gehen manche Senioren dann zum nächsten Arzt?
Das ist tatsächlich so. Aber dem Senior sollte bewusst sein, dass er ein gefährliches Spiel treibt. Außerdem: Der Schlaf zum Beispiel verändert sich im Alter. Man schläft nicht mehr so viel, das sollte man mal hinnehmen. Es gibt viele Ältere, die um 20 Uhr ins Bett gehen, weil in ihrem Leben zum Beispiel um diese Zeit eh’ nichts mehr passiert. Aber es geht physiologisch gar nicht, dass man dann bis 8 Uhr morgens durchschläft. Da muss er oder sie halt bis zu den Tagesthemen wach bleiben! Dieser Reflex, einfach zum Schlafmittel zu greifen, ist hier sehr hoch.
-Gestehen sich Ältere leichter eine Sucht ein?
Im Gegenteil! Deswegen wissen wir auch nicht viel zur Sucht im Alter. Es gibt zum Beispiel keine genauen Zahlen, nur Abschätzungen. Das liegt vor allem daran, weil die Scham bei Älteren extrem ausgeprägt ist. Auch bei Jüngeren ist die Sucht ein Tabu-Thema, aber doch weniger.
-Wie erkennt ein Angehöriger, dass Oma oder Opa abhängig ist?
Oft findet man heimliche Depots: Männer verstecken zum Beispiel gerne die Bier- oder Schnapsflasche zwischen Fernsehsessel und Heizung oder im Hobbykeller, Frauen lagern den Melissengeist im Brotkörbchen im Küchenschrank oder im Wäscheschrank. Wenn der Angehörige so etwas entdeckt, ist das ein sehr auffälliges Zeichen. Genauso könnte es sein, dass das Verhalten des Betroffenen sich immer wieder ändert. Manche Stürze, die wir bei Senioren sehen, sind auch unter Alkoholmissbrauch entstanden. Ein Klassiker ist der Bierkasten im Keller, der immer zum Ende der Woche leer ist. Der Alkohol muss ja irgendwo hingegangen sein! Ein Hausarzt findet Veränderungen in den Laborwerten.
-Wie reagieren Betroffene, wenn ein Angehöriger sie darauf anspricht?
Er wird seine Abhängigkeit immer erst einmal leugnen und die Konfrontation wird stark oder sogar lautstark abgewehrt. Denn das Leugnen oder die Scham bereiten die größten Probleme. Der Angehörige sollte aber wissen: Der Betroffene sollte zu nichts gedrängt werden. Denn der Wille, mit dem Suchtmittel aufzuhören, muss aus ihm selbst kommen. Will der Betroffene von sich aus Hilfe, hat er eine gute Chance, von der Sucht wegzukommen.
-Wie kann sich der Betroffene selbst rausholen?
Sich selber von der Sucht ablenken hilft vielleicht zwei Tage lang. In der Regel beeinträchtigt eine Sucht einen Betroffenen aber so stark, dass er am dritten Tag einbrechen wird. Er sollte sein Problem am besten seinem Hausarzt oder einer Suchtberatungsstelle schildern, und diese übernehmen die Behandlung oder leiten ihn weiter. Unsere Hausärzte sind darin sehr gut. Denn entgegen der landläufigen Meinung haben wir in Deutschland eines der effektivsten Suchthilfesysteme weltweit. Außerdem sind Selbsthilfegruppen oft sehr wertvoll. Denn hier treffen sich Menschen, die eine ähnliche Vorgeschichte haben.
-Mancher fragt sich: Lohnt sich eine Suchtherapie im hohen Alter noch?
Diese Frage gilt quasi für jedes medizinische Krankheitsbild. Aber: Alter darf kein Grund sein, Hilfen zu verweigern. Und jedem muss klar sein, dass die Gesundheitsgefahren einer Sucht immer die Lebenserwartungen verkürzen – da gibt es keine Ausnahme. Wenn ein Mensch – egal welchen Alters – wieder gesund werden möchte, sollte er also etwas tun.
Das Gespräch führte Angelika Mayr.