Biografie über Dirigentenlegende Mariss Jansons

von Redaktion

Eigentlich sollte die Biografie über Mariss Jansons, die in Zusammenarbeit mit ihm entstand, im August herauskommen. Doch der plötzliche Tod des Dirigenten am 1. Dezember zwang allen Beteiligten einen neuen Zeitplan auf. Daher erscheint „Mariss Jansons. Ein leidenschaftliches Leben für die Musik“ am kommenden Montag. Verfasst wurde das Buch von Markus Thiel, Kulturredakteur unserer Zeitung. Wir drucken einen Auszug.

Vier Takte sind es nur, kurz nachdem das berühmte Motiv erstmals in den Saal gemeißelt wird. Weil es nicht so recht klappt, wie er es sich vorstellt, singt der junge Mann im dunklen Rollkragenpullover mit den leicht zu Berge gekämmten Haaren die Passage einfach vor: „Ta, ta, ta, taaa – ti, ti, ti, tiii – ta, ta, ta, taaa.“ Im Piano wandert das Motiv durch die Violinen, wird später von der Viola übernommen, bevor es zum Tutti-Ausbruch kommt.

Als ob die Musiker das nicht kennen würden. Unter vielen Dirigenten haben sie die Takte gespielt, mutmaßlich auch unter ihrem aktuellen Chef Lorin Maazel. Und jetzt steht da dieser 28-Jährige mit dem ernsten Gesicht, der es bei diesem Schlager tatsächlich auf Grundsätzliches abgesehen hat. „Das ist das Wichtigste“, sagt er mit Nachdruck. „Wenn diese drei Takte zusammen sind, dann ist alles in Ordnung. Bitte alles ganz gleich, nicht schneller. Hören Sie aufeinander.“

Mariss Jansons erklärt dem Berliner Radio-Symphonieorchester den Anfang von Beethovens fünfter Symphonie. Mehr noch: Er fordert Präzision von teils altgedienten Musikern. Nachhilfe für ein etabliertes Ensemble? Jansons darf das, es wird von ihm erwartet. Im September 1971 nimmt er am Karajan-Dirigentenwettbewerb teil. Schon länger ruht das Auge des Klassikgottes auf ihm, jetzt soll Jansons in Berlin die beträchtlichen Erwartungen erfüllen.

Fünf Runden sind angesetzt, teilweise mit extrem schwierigem Repertoire. In der Jury sitzen Prominente wie der Brite Walter Legge, mächtiger Produzent des Labels EMI, oder der Österreicher Hans Swarowsky, einer der wichtigsten Dirigierlehrer seiner Zeit. Swarowsky notiert im Prüfungsprotokoll über Jansons und seine Interpretationen von Mozart, Beethoven und Strawinsky: „Jupiter gut, fließend unterteilt, teilweise in Triolen. Eroica sehr gut. Sacre sehr gut. Bartók besonders gut.“ Sein Gesamturteil: „ursprünglicher Musiker“.

Für eine der ersten Runden hat Jansons einen Ausschnitt aus Ravels „Daphnis und Chloé“ vorgeschlagen, womit er aber auf Bedenken stößt: Ein solch heikles Stück sei dafür weniger geeignet, man empfehle Beethovens Fünfte. Als eine Art Kompromiss darf Jansons den Ravel im Schlusskonzert des Wettbewerbs dirigieren. Filmaufnahmen zeigen Jansons nicht nur beim Proben, sondern auch im Konzert. Den kniffligen Übergang vom dritten zum vierten Satz im Beethoven-Opus bewältigt er mit großer Klarheit und höchster Konzentration. Immer wieder kontrollierende Blicke ins Orchester, kein bloßes Taktieren, eine fühlbare Wachheit auf beiden Seiten, ein ständiges Regulieren. Im Schlusskonzert dann „Daphnis und Chloé“.

„Ich war sehr nervös“, erinnert sich Jansons später. „Karajan saß im Saal, und ich war mit dem musikalischen Ergebnis nicht zufrieden. Das, was ich aus dem Werk herausholen wollte, konnte ich nicht zeigen.“ Es hat nicht gereicht. Den ersten Platz erringt der polnisch-israelische Dirigent Gabriel Chmura, den zweiten Preis teilen sich Jansons und der Pole Antoni Wit. Doch das eigentliche, von vielen Besuchern und von den Medien wahrgenommene Ereignis ist Jansons. „Der Russe konnte auch im Konzert brillant bestehen“, hebt ein Fernsehbeitrag hervor. Das Berliner Publikum reagiert auf seine Weise, ein Zuhörer spricht in die Kamera: „Der Russe war kolossal.“

Bei der Preisverleihung schreitet Karajan nochmals aufs Podium, drückt die Schultern seines Eleven mit gönnerhafter Miene. Man ahnt, wer sein eigentlicher Favorit war. Auch für den Hoffnungsträger bedeutet die Geste mehr als eine Silbermedaille, sie kommt einer zweiten Geburt gleich: „Ich war nicht mehr der Sohn von Arv¯ids Jansons“, sagt er später. „Ich war nun Mariss Jansons.“

Die erste Geburt ereignet sich 28 Jahre zuvor im lettischen Winter des Jahres 1943. Allerdings nicht wohlbehütet und mit entsprechender medizinischer Versorgung, sondern unter Todesgefahr. Iraida Jansone, Angehörige einer jüdischen Familie, hält sich in Riga versteckt, die Stadt ist von den Deutschen besetzt. Ihr Bruder und ihr Vater wurden von der SS ermordet. Auch sie fürchtet, verhaftet und deportiert zu werden. Am 14. Januar 1943 bringt sie ihren Mariss zur Welt – in einem Land, das kaum mehr existiert. Seit 1941 steht Lettland unter deutscher Besatzung. Doch war das Land bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht vollkommen traumatisiert von einem Jahr sowjetischer Besatzung. Zigtausende Letten wurden nach Sibirien gebracht, es herrscht ein Terrorregime. Die Deutschen werden von vielen als Befreier begrüßt. Manche sehen sie als das kleinere Übel, andere als Verheißung. Die Invasoren aus dem Westen können auch auf Kollaborateure vertrauen. Bis zum Spätherbst 1941 ist die jüdische Gemeinde nahezu ausgelöscht. Kurz zuvor entsteht in Riga, der sogenannten „Moskauer Vorstadt“, ein Ghetto, in dem tausende Juden zusammengepfercht werden.

Da auch Deportierte aus dem Westen hier hausen müssen, verschlimmern sich die Wohnverhältnisse drastisch. Das Zusammenleben wird unerträglich. Viele werden aus der Stadt in die Wälder transportiert und getötet. Nur ein kleiner Teil der lettischen Juden kann dem Grauen entkommen, versteckt, geduldet, unterstützt von wohlwollenden Landsleuten. Iraida Jansone und ihr einziges Kind Mariss gehören dazu.

Die Verfolgte ist mit dem Dirigenten Arv¯ids Jansons verheiratet. Eine Musikerbeziehung: er, der geachtete Mann am Dirigentenpult und frühere Geiger im Opernorchester, und sie, die Mezzosopranistin. Als der Krieg endlich vorüber, jedoch noch längst nicht psychisch bewältigt ist, sind beide am Opernhaus ihrer Heimatstadt Riga engagiert. Einen Babysitter kann und will sich das Paar nicht leisten, allerhöchstens eine Putzfrau, um die Wohnung in Ordnung zu halten.

Und so wird der kleine Mariss fast täglich in den Musentempel mitgenommen – was ihm nicht allzu viel auszumachen scheint. Er erforscht die geheimnisvollen dunklen Gänge hinter Bühne und Garderoben und ist ständig von singenden, tanzenden, spielenden Menschen umgeben. Das Grauen der deutschen Besatzung mag überwunden sein, doch nun führt die Familie ein Leben unter dem Sowjetsystem – und wird bedroht. Jansons erfährt dies bereits im Alter von vier Jahren. Ein KGB-Offizier taucht plötzlich auf, um seine Tante mitzunehmen. „Warum?“, fragt der Junge. Da antwortet der Uniformierte: „Wir gehen ein bisschen spazieren, dann kommt sie zurück.“ Die Tante wird nach Sibirien deportiert. Umso mehr bietet die Oper einen Schutzraum, auch eine Flucht aus der Realität. Mariss nimmt die dort aufgeführten Werke in sich auf, anfangs unbewusst, später mit immer größerer Faszination. Wird für Tschaikowskys „Schwanensee“ oder „Don Quichotte“ auf eine Musik von Ludwig Minkus geprobt, tanzt er das Beobachtete später der Putzfrau in der elterlichen Küche vor. Nicht immer zur Begeisterung des Einfraupublikums, Pfannen und Töpfe fallen zu Boden, Teller gehen zu Bruch.

Sehr bald schon darf Mariss auch die Aufführungen verfolgen, wobei ihm die Trennung von Fiktion und Realität nicht immer leichtfällt. An einem Abend sitzt der Fünfjährige wieder einmal in der Loge rechts über dem Orchestergraben. Wie so oft steht seine Mutter auf der Bühne, diesmal als Carmen. Wie im Stück vorgesehen, stürzt sich im letzten Akt der Tenor auf sie, es ist Don José in seinem finalen Eifersuchtsanfall mit tödlichen Folgen. „Bitte nicht meine Mutter berühren!“, gellt es plötzlich aus der Loge. Arv¯ids Jansons bringt seinen Sohn weg.

Zwischen Mutter und Sohn entwickelt sich – auch weil der Vater durch den Beruf stark gefordert ist – eine besonders innige Beziehung. Die Unterdrückung und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung ist kaum ein Thema in der Familie. Noch immer, auch später, grassiert in der Sowjetunion ein schleichender Antisemitismus, manchmal tritt er offen zutage. Empathie, humanitäre Prinzipien, religiöse Grundsätze, all das lehrt Iraida Jansone dem Sohn und lebt es ihm vor. Auch strenge Manieren, wie sie im Lettland der damaligen Zeit und in dieser Gesellschaftsschicht üblich waren.

In der Schule setzt sich diese Erziehung fort. „Wir hatten dort sehr eiserne Regeln, was den mitmenschlichen Umgang betraf“, erinnert sich Jansons. „Wenn der Lehrer einen etwas fragte, musste man aufstehen. Außerdem mussten wir Jungen uns immer verbeugen und die Mädchen knicksen. Und für eine Note, egal wie schlecht, mussten wir uns bedanken.“ Zeitlebens steht Jansons unter dem Einfluss dieser kindlichen Prägung.

Mit antiautoritärer Erziehung kann er wenig anfangen: „Ich mag altmodisch sein, aber es geht doch um das Miteinander. Um gesellschaftliche Beziehungen und darum, wie man sich in die Gemeinschaft einbringen kann und sollte.“ Eine autoritäre Stimmung herrscht im Hause Jansons dennoch nicht. Nie bekommt der Sohn von der Mutter ein „Du musst!“ zu hören. „Sie hat mir alles erklärt, sodass ich alles verstehen konnte. Und sie hat mir alles mit Liebe vermittelt.“

Markus Thiel:

„Mariss Jansons. Ein leidenschaftliches Lebens für die Musik“. Mit Fotos von Peter Meisel; Piper, München, 320 Seiten; 25 Euro.

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