So ein Bauch ist eine feine Sache. Der Kopf taugt doch meist nur als Bedenkenträger; Beine und Arme sind allzu oft im Weg, während wir durchs Leben stolpern. Im Bauch aber ist der Mensch ganz bei sich und darf’s auch sein: Hier sitzt das Gefühl, hier landen Speis und Trank. Das tut gut.
Der Bauch ist der Gipfel des Körpers, und wuchtig erhebt er sich daher im Münchner Volkstheater. Sarah Sassen hat das feiste Fleischmassiv aufgeschichtet, inklusive Brustwarze, Pigmentflecken, dunklen Härchen, die sich offenbar verirrt haben. Ein Prachtstück vor prächtiger Alpenkulisse: ein herrliches Bühnenbild für die Uraufführung eines Stücks übers Oktoberfest, bei dem sich vieles um Bier, Bäuche, Brauchtum dreht.
Die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel hat im Auftrag des Volkstheaters vergangenes Jahr mehrere Tage auf der Wiesn recherchiert und ihre Eindrücke aufgeschrieben (wir berichteten). Am Donnerstag wurde ihr dabei entstandener Text „Am Wiesnrand“ uraufgeführt (90 Minuten, keine Pause). Die Österreicherin, 2016 beim renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, ist keine Unbekannte im Haus an der Brienner Straße: Vor zwei Jahren war die Inszenierung ihrer Arbeit „Ja eh! Beisl, Bier und Bachmannpreis“ zum Festival „Radikal jung“ eingeladen – und überzeugte die Zuschauer. Damals wie heute besorgte Christina Tscharyiski die szenische Einrichtung.
Es ist eine echte Herausforderung, das Oktoberfest literarisch fassen zu wollen. Ähnlich schwierig ist wohl nur der Versuch, beim Teufelsrad bis zum Ende oben zu bleiben. Sargnagel hat sich dem gestellt, doch ihr Text hat kaum mehr Gehalt als ein Schnitt. Von der Mass ist „Am Wiesnrand“ weit entfernt. Leider. Die 31 Seiten sind Erlebnisbericht, Klischeesammlung, ein Potpourri mal besserer, oft flacherer Pointen. Oktoberfest-Gebrauchsprosa – wenn’s hochkommt.
Wer sich zur Wiesn-Zeit in der Stadt aufhält, wer Zeitungsartikel über das Volksfest liest, kennt alles, was da auf der Bühne referiert wird. Leider geht die Autorin in kaum einem Moment über die Zustandsbeschreibung hinaus, eine weitere Ebene sucht man in ihrem Werk vergeblich, gesellschaftliche Tiefenbohrung, eine künstlerisch-poetische Verarbeitung des Gesehenen findet nicht statt. „Alles, was ich mir wünsche, ist eine schöne Zeit in zünftiger Atmosphäre auf Kosten deutscher Steuerzahler, Trachtensex mit einem grobschlächtigen Bayern, und wer weiß, vielleicht lerne ich in der ausgelassenen Atmosphäre endlich meinen Traumprinzen kennen“, schreibt sie zu Beginn ihrer Ich-Erzählung. Viel mehr passiert auch nicht. „Am Wiesnrand“ ist schlecht eingeschenkt.
Sargnagel referiert, verdichtet mitunter, fabuliert ein bisschen und spitzt zu. All das bleibt jedoch stecken zwischen der Feststellung „Die Theresienwiese ist der größte Fleischmarkt der Welt; jede Bier- eine Samenbank“ – und der Beobachtung, dass „Menschen jenseits aller sozialen Grenzen mit letzter Kraft versuchen, die lasch getrunkenen Körper ineinander zu verknoten, mit schlaffen Weichteilen in den anderen einzudringen und sich zu vereinen als romantischen Abschluss des gemeinsamen Scheiterns“. Eh klar. Und?
Nur manchmal blitzt messerscharfer Witz auf, etwa bei der Schilderung einer brutalen Festnahme durch die Polizei: „Der Mann am Boden hat einen Joint geraucht, und Rauschgiftkonsum wird hier streng verfolgt.“ Das sind die seltenen Stellen, die zeigen, was möglich gewesen wäre, wenn Analyse, lakonische Formulierung und Schmäh ineinandergreifen.
„Am Wiesnrand“ ist kein Text, der auf die Bühne muss. Umso erstaunlicher ist, wie es Regisseurin Tscharyiski und ihrem Team gelingt, daraus dennoch einen unterhaltsamen Theaterabend zu machen. Das liegt vor allem an den Schauspielerinnen und Schauspielern: Henriette Nagel, Pola Jane O’Mara, Nina Steils, Jan Meeno Jürgens und Jonathan Müller beeindrucken durch enorme Spiellust, perfektes Timing und eine gut abgestimmte Ensembleleistung.
Svenja Gassen hat ihnen Flohmasken über die Köpfe gezogen – sie hüpfen, torkeln, klettern, rutschen, springen, zwicken, und sie knabbern sich über den Bierbauch. Die Vorlage sprechen sie mal einzeln, mal im Chor und tragen „Am Wiesnrand“ durch diese kluge Aufteilung (Dramaturgie: Rose Reiter) über manche Schwachstelle hinweg. Ja, die fünf spielen sich – zusammen mit der Wiener Band Euroteuro, die selbst einen Wiesn-Hit wie „Cowboy und Indianer“ mit großer Ernsthaftigkeit interpretiert – in einen Rausch. Immerhin der hat’s in sich.
Heftiger, herzlicher und langer Applaus.
Nächste Vorstellungen
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