Jeder Opernfreund weiß genau, wie „seine Bohème“ auszusehen hat. Keine leichte Aufgabe also für einen Regisseur. Bernd Mottl, der in Berlin lebende Rheinländer, stellt sich der Herausforderung trotzdem und präsentiert seine Lesart von Puccinis Erfolgsoper mit Chefdirigent Anthony Bramall an diesem Donnerstag erstmals im Gärtnerplatztheater.
„Über vergangene Zeiten kann ich nur Vorgekautes wiedergeben; wirklich etwas ausdrücken kann ich nur über meine Zeit“, meint Mottl. Kein Wunder, dass er „La bohème“ anno 2019 ansiedelt und den Klischees, die sich im Laufe der 120-jährigen Inszenierungsgeschichte angesammelt haben, Adieu sagen möchte. „,La bohème‘ ist keineswegs die Oper zum Spitzweg-Gemälde“, sagt der Regisseur lachend. Vielmehr sieht er in Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline eine Gruppe von humorvollen Männern, die sich gegen die Bürgerlichkeit stellen. „Es ist ihre bewusste Entscheidung, mit leerem Kühlschrank zu leben. Der Zuschauer sollte sich davon verabschieden, dass die vier arme Schlucker sind.“
Beweise dafür liefert Mottl gleich mit: In den „Scènes de la vie de Bohème“ von Henri Murger, der Vorlage zur Oper, erfährt man, dass Rodolfo bei einer renommierten Pariser Zeitung („Le Castor“) arbeitet und einen Millionär als Onkel hat. Auch im Libretto gibt es einen entscheidenden Hinweis: Schaunard wird bei seinem Auftritt von zwei Lieferboten flankiert. In der Antibürgerlichkeit (bloß kein Spießer sein) und in der selbst gewählten Reduktion (weg vom Materialismus) erkennt Mottl Parallelen zu heute: „Die Künstler-WG hat die Fenster ausgehebelt, weil sie die Kälte mal ausprobieren will. Gleichzeitig tragen alle Klamotten, die vom spanischen Label Vetements sein könnten. Eine Firma, die aus Second-Hand-Stoffen High Fashion kreiert. Da kann ein Mantel aus alten Badevorlegern schon mal 5000 Euro kosten.“ In der lebenslustigen Mimì erkennt der Regisseur eine Obdachlose, die, so liest er es aus der Vorlage, „weit promisker unterwegs ist als Musetta“. Bei Rodolfo findet sie mehr – die große Liebe samt Eifersucht. Mottl lässt Rodolfo das ganze Geschehen in der Retrospektive erleben und schafft damit einen Rahmen für die vier Bilder.
Während an der Staatsoper noch Otto Schenks Uralt-„Bohème“ gefeiert wird, wagt sich nun also das Gärtnerplatztheater an einen Gegenentwurf. Bernd Mottl genießt die Zusammenarbeit mit Anthony Bramall: „Wir versuchen, die Oper handwerklich bestmöglich umzusetzen und nicht eitle Visionen zu verwirklichen.“ Außerdem freut er sich über ein junges spielfreudiges Ensemble, das „bestens zum Stück passt“.
Oper, Operette und Musical gehören zum Repertoire des freischaffenden Berliner Regisseurs, der immer wieder gern zum Schauspiel und damit zu seinen Anfängen (an der von ihm mit gegründeten Studiobühne der Freien Universität Berlin) zurückkehrt. Doch Oper & Co. machen nicht zuletzt wegen der langfristigeren Planung mittlerweile den Löwenanteil seiner Arbeit aus. Viel und gern hat der Regisseur, der in Berlin Theaterwissenschaften studierte und als Assistent bei Harry Kupfer und John Dew „viel lernte“, an den Opernhäusern Köln, Hannover und Wiesbaden inszeniert. Nun gibt er sein Debüt in München, wo mancher beim Namen Mottl aufhorcht. In der Tat: Der berühmte Wagner-Dirigent und Münchner Hofoperndirektor Felix Mottl war sein Urgroßonkel.
Premiere
an diesem Donnerstag,
19.30 Uhr Telefon 089/ 2185-1960.