PREMIERENKRITIK

von Redaktion

Start der Münchener Musiktheater-Biennale

von markus Thiel

Es ist nicht so, dass dort die wilden Tiere lauern. Oder Straßengangs, Sturmwarnungen, Stickoxide oder ähnlich Unangenehmes. „Draußen“, das bedeutet ja immer auch: Auseinandersetzung mit dem oder der anderen, mithin also Relativierung, Infragestellung der eigenen Person. „Privatsache“, das Motto der 16. Münchener Musiktheater-Biennale, kommt gerade recht in einer Zeit, in der Diskurse und Dinge überm Tellerrand gern ausgeblendet werden etwa durch Meinungsblähungen in Sozialen Netzwerken. Wie wäre es also, wenn da eine WG beieinander haust, die sich selbst genügt und die Geschehnisse vor der Haustür (und jenseits des eigenen Hirns) ignoriert?

Furchtbar theoretisch könnte man so etwas in einem neuen Stück Musiktheater abhandeln. Oder so, wie es zur Festival-Eröffnung in der Muffathalle geschah. Alle sind sie hier versammelt: der Macho, der beflissene Hausmann, der schräg Theoretisierende und zwei Damen, deren betonierte Frisuren („Ich habe schöne Haare“) Thema gelegentlicher Textschleifen wird. „Dass wir hier sind, macht mich stolz“, wird einmal unter allgemeiner Zustimmung gesagt. Und es reicht ja auch: Toast mampfen, Gurken schneiden, aufs Klo gehen, im Bett rummachen oder in der Nase bohren und den Inhalt zu musikalischen Pizzikato-Akzenten wegschnippen.

Ein hinterlistiges kleines Stück Musiktheater ist da Yasutaki Inamori (Komposition, Konzept) und Gerhild Steinbuch (Libretto, Konzept) mit „Wir aus Glas“ geglückt. Ein Stück über Vereinzelungen im Kollektiv, über eine Gruppe, die sich inhaltlich im Kreise dreht – das zeigt nicht nur ein Tischgespräch, in dem Belangloses mit subtiler Rhythmisierung sprechsingend verhandelt wird.

Denn ja: Die Musik spielt hier – auch in ihren Vorformen, im Übergang vom Geräusch zum Klang, vom Sprechen zum Rhythmus, von der Floskel zur Phrase – eine große Rolle. Das ist zumindest in diesem Fall anders als bei der Biennale Anno 2016, der ersten unter Leitung von Manos Tsangaris und Daniel Ott, die so schauerlich missriet. 15 Uraufführungen haben sie für ihren zweiten Versuch zusammengespannt, es geht hinein in Privatwohnungen und einmal sogar über den Starnberger See.

„Wir aus Glas“ ist vergleichsweise klassische Theaterkost. Manchmal dämmert in diesem 75-Minüter archaisches Melos à la Monteverdi herauf, zu hören sind auch ein verbogener Trauermarsch, frecher, verfremdeter Barock oder Angejazztes, das – eine neue Biennale-Erfahrung – einen zum Mitwippen bringt. Gespielt wird das von exzellenten Solo-Bläsern und zwei Streichern, die auch in den gestischen Dialog mit den ebenso wunderbaren Sängern treten. Im Publikum ist ein kleiner Chor postiert. All dies ist so subtil verschränkt, manchmal so unmerklich im Übergang der Aggregatszustände, dass man nicht weiß, wo Improvisatorisches endet und Struktur beginnt. Überhaupt werden Perspektiven im Doppelsinn ver-rückt. Regisseur David Hermann und Bühnenbildner Jo Schramm lassen die gegenüber postierten Publikumstribünen unabhängig voneinander an der Spielfläche entlangfahren. Wer sich gerade bewegt, man spürt es oft nicht.

Anders, fest gefügter, auch hermetischer ist eine Performance in der Whitebox des Werksviertels. „Skull ark, upturned with no mast“ von Clara Inannotta spielt ebenfalls mit Übergängen, etwa zwischen Amorphem à la Sendersuchlauf eines Radios und Verdichtungen zu teils schmerzhaften, auch plötzlich hereinbrechenden Klängen. Vier Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart stehen in einer Gitterlandschaft, steuern elektronisch verfremdete Liegetöne bei oder bewegen spezielle Mikros übers Metall. Alles sehr dunkel, sehr schemenhaft, nur bedingt bedrohlich und eine Spur zu lang. „Manchmal denk’ ich noch an draußen“, hatte jemand in der Muffathallen-WG geseufzt. Hier im Werksviertel geht einem der Satz – vielleicht ganz im Sinn des Festivals – nicht aus dem Sinn.

Informationen:

Das Festival dauert bis zum 16. Juni; Programm und Karten unter www.muenchenerbiennale.de.

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