Premierenkritik

Wir sind so frei

von Redaktion

Felix Hafner inszenierte am Münchner Volkstheater „Schöne neue Welt“ nach Aldous Huxleys Science-Fiction-Roman

Von Michael Schleicher

Natürlich ist es Zufall, dass diese Produktion jetzt herauskommt, da Bayern über das neue Polizeiaufgabengesetz streitet – und allein in München mehr als 30 000 Menschen dagegen auf die Straße gehen. Drei Tage nach dieser Demonstration feierte am Münchner Volkstheater „Schöne neue Welt“ nach Aldous Huxley Premiere. Der britische Autor (1894-1963) stellt in seinem im Jahr 2540 spielenden Roman die Frage, ob es sich lohnt, Individualität und Freiheitsrechte aufzugeben im Tausch gegen ein gesundes, sicheres und sorgenfreies Leben. Ein Leben innerhalb einer „genormten Zivilisation“ mit den drei Säulen „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“, wie es an einer Stelle des 1932 erschienenen Buches heißt.

Man kann das als Dystopie lesen – muss es aber nicht. Tatsache ist, dass die Menschen bei Huxley in einem Kastensystem und zwischen Konsum, Arbeit, Promiskuität sowie der Superdroge Soma ganz zufrieden leben. Einen vordergründigen Überwachungsapparat – wie in anderen Science-Fiction-Texten oder -Filmen – braucht der Schriftsteller nicht: Kontrolle, Selektion und Normierung geschehen vom Moment der künstlichen Befruchtung an.

Felix Hafner, 1992 in der Steiermark geboren, hat fürs Münchner Volkstheater nun eine sehr stringente, beherzt zugreifende Bühnenfassung des Romans erstellt. Dabei verzichtete er auf den technischen Firlefanz, den sich Huxley für die Zukunft ausgedacht hat und der heute allenfalls putzig wirkt. Ebenso hat sich der Regisseur von der Fixierung des geschilderten Alltags auf den Autobauer Henry Ford (1863-1947) verabschiedet. Konsequent beibehalten hat er dagegen das gesellschaftspolitische Konstrukt, das der „Schönen neuen Welt“ zugrunde liegt und das sich nach wie vor erschreckend plausibel und nachvollziehbar liest.

Doch der Regisseur ist klug genug, seine Inszenierung an keine verkrampfte Aktualisierung zu verraten. Nur an wenigen Stellen ist zu merken, dass er Huxley konsequent in die Gegenwart gedacht hat – etwa wenn der „Wilde“ John Savage nicht nur das Recht auf Alter und Hässlichkeit einfordert, sondern explizit auch das „Recht auf Terror und Aids“. Natürlich ist dem zwei Stunden langen Abend anzumerken, wo Hafners Sympathien liegen. Doch hält er lange Zeit vieles in der Schwebe. Es gibt Momente, da schmiegt sich seine Produktion ans Publikum wie ein Wellness-Produkt, ein gesellschaftliches Spa-Programm aus Love, Sex, Drugs mit dem einen Ziel: Happiness für alle Friends.

Dazu passt, dass Janina Brinkmann die acht Darsteller in einen wilden Kostümmix der Sechziger-, Siebziger- und dem Besten der Neunzigerjahre gesteckt hat. Die „Schöne neue Welt“ ist kein Überwachungsstaat, sondern eine schier endlose Party mit sehr simplen Tanzabfolgen zu sehr eingängiger Musik – beschienen von einer künstlichen Sonne, die Camilla Hägebarth in die Tiefe der Bühne gebaut hat.

Hafners Ansatz ist stimmig, aber vor allem für Timocin Ziegler eine Herausforderung: Er hat die Rolle des Bernhard Marx, eines gesellschaftlichen Außenseiters, der zwar zur Masse gehören will und zugleich die Einsamkeit genießt, (noch) nicht in ihrer ganzen Zerrissenheit ausgelotet. Erst im Verlauf des Abends, vor allem im Zusammenspiel mit dem quirligen Mehmet Sözer als poesieliebenden Helmholtz Watson, entdeckt Ziegler die Kanten seiner Figur. Das fällt vor allem auf, weil er in Julia Richter eine Partnerin hat, die mit ihrer Energie, ihrer Spiellust und dem Verständnis für ihre gegenwartsbesoffene Lenina im Kontext der Inszenierung diese über weite Strecken trägt. Ein Glück also, dass Hafner die weiblichen Charaktere im Vergleich zur Vorlage aufgewertet hat.

Dem Regisseur geht es um die Frage, welche Auswirkungen Huxleys Ordnung auf die Menschen hat. Dabei beeindruckt die Exposition des Abends: In elegant verwobenen Szenen etabliert er die Beziehungen der Protagonisten untereinander sowie das Zukunftsszenario, sodass auch jene Zuschauer folgen können, die den Roman nicht kennen. Da Individualität verpönt ist und persönliche Rückzugsräume nicht akzeptiert sind, ist das gesamte Ensemble als Gesellschaftskörper auf der Bühne.

Dieser wird gehörig durcheinandergewirbelt, als John Savage und seine Mutter aus dem Reservat in die sogenannte Zivilisation kommen. Silas Breiding zeigt diesen angeblich Wilden zwar mit einer großen Liebe zu Shakespeare (die eingespielten Zitate stammen von berühmten Interpreten wie Richard Burton und Oskar Werner), aber auch mit ebensolcher Wut auf die Verhältnisse, die er nicht verstehen kann. Dennoch hätte Hafner gerade diesen „Clash of Civilizations“ heftiger, absurder inszenieren dürfen – hier bleibt er zu brav. Allerdings gelingt ihm eine wunderbare Liebeserklärung ans Theater selbst: Als John die Leute aufrütteln will, die um ihre Superdroge Soma anstehen, um Urlaub von der Gegenwart zu nehmen, verhüllt er die künstliche Sonne mit einem roten Vorhang, wie wir ihn von der Bühne kennen. „Ihr seid frei!“, ruft er. Die Menschen aber – so die (traurige?) Erkenntnis – wollen von dieser Utopie nichts wissen, die das Theater seit Jahrhunderten verhandelt. John ist am Ende, doch voller Trotz. „There is a Light that never goes out“, singt er mit den Smiths. Gibt’s Hoffnung? Langer, herzlicher, heftiger Applaus.

Nächste Vorstellungen

am 18., 28. Mai und am 4., 9. sowie 25. Juni; Telefon 089/ 523 46 55.

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