Also nein, diese heutige Jugend! Statt leiblichen Lüsten zu frönen, wie sich’s gehört, will sie von Sex gar nichts wissen. Welch ein erschreckender Sittenverfall, denn „zu unserer Zeit“ war das bekanntlich alles ganz anders. Zugegeben, die neumodische Kopulationsverweigerung betrifft (noch) nicht Europa, sondern Japan, wo seit dem Jahr 2000 der geschlechtliche Verkehr immer mehr zum Erliegen kommt: Offizielle Erhebungen belegen, dass fast die Hälfte aller japanischen Männer und Frauen zwischen 18 und 34 Jahren sich noch im Zustand der Jungfräulichkeit befindet.
Insofern nimmt es nicht wunder, wenn ein japanischer Regisseur dieses Thema aufgreift: „No Sex“ heißt – nach „No Theater“ – das jüngste Werk des international gefeierten Theatermachers Toshiki Okada, das jetzt an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Das extrem realistische Bühnenbild zeigt eine japanische Karaoke-Bar wie aus dem Bilderbuch, eine schicke Lounge mit Sitzgruppe, Glitzertapete und Lichtorgel. Hier treffen sich vier junge Männer, die Namen von Zierpflanzen tragen und den Sex nicht kennen, um bekannte Lovesongs der Popmusik nachzusingen. Gewandet in futuristisch-fernöstliche Outfits irgendwo zwischen Geisha, Samurai und Yedi-Ritter, trällern sie „Oh Baby, küss mich, beiß mich, nimm mich in die Arme“. Allerdings nur, um anschließend ein irrwitziges Theorie-Geschwurbel darüber loszulassen, in dem von Personalpronomen, „Clustern“ und dem „fiktionalen Ich“ die Rede ist. Dementsprechend verrenkt wirkt auch die Dauergymnastik aus Wippen, Wackeln, Zucken, die diese vier komischen Heiligen dazu aufführen.
Ganz ohne Erotik kommt der Abend aber zum Glück doch nicht aus. Zu verdanken ist das der einmal mehr hinreißenden Annette Paulmann, die hier Frau Nakamura spielt, die Putzfrau der Karaoke-Bar. Erst schildert sie der staunenden Jugend, wie es in exklusiven Stundenhotels aussieht und was man dort so alles treiben kann. Worauf als Höhepunkt (um im Bild zu bleiben) ihr herrlich komisch-lasziver Karaoke-Auftritt folgt. Äußerlich den Typus des bieder-korpulenten Muttchens mit Prinz-Eisenherz-Frisur verkörpernd, singt sie zur Melodie von Donna Summers Disco-Hit „I feel Love“ einfach nur „Ich will Sex, ich will Sex, ich will Sex“. Wieder ist es das Prinzip der verkehrten Welt, der vertauschten Rollenmuster, aus dem hier der Witz erwächst: Statt eine Moralpredigt abzulassen, trällert die vermeintliche Spießerin im gesetzten Alter ihr Bekenntnis zur Triebhaftigkeit hinaus, während die jungen Leute keine enthemmten Draufgänger, sondern krampfig-verkopfte Sexmuffel sind.
Oder sollte deren Genital-Verweigerung gar eine Form, um nicht zu sagen, einen Akt der Subversion darstellen? Anders kann es sich Herr Matsumoto (Stefan Merki), der Besitzer der Karaoke-Bar, nicht erklären. In der Weltsicht dieses ergrauten Revoluzzers mit Pferdeschwanz sind die jungen Leute „aus dem Sex ausgetreten“, weil heutzutage „Macht und Kapital uns das Bedürfnis nach Sex aufzwingen“. Gar so politisch, als neue Art des Widerstands nach dem Motto „Brüder, zur Sonne, zur Keuschheit“, sehen die vier Jungen ihr geschlechtliches Desinteresse freilich nicht: Für sie ist Sex nur eine von vielen möglichen Freizeitaktivitäten. Allerdings eine risikoreiche und mit Unsicherheiten verbundene, weshalb ihnen Angeln, Skateboard-Fahren oder Go-Spielen als wesentlich attraktivere Hobbys erscheinen. Stressfreier sind sie auf jeden Fall. Langer, begeisterter Jubel.
Nächste Aufführungen
am 19. April sowie am 15. und 28. Mai;
Telefon 089/ 233 966 00.