„Wann kommst Du?“

von Redaktion

Von erschütternd bis amüsant: Schlager-Seligkeit im Literaturhaus

von jörg heinrich

„Hier ist Berlin!“ Natürlich musste dieser Abend mit dem legendären ersten Satz von Dieter Thomas Heck in der ersten ZDF-„Hitparade“ am 18. Januar 1969 beginnen – quasi mit der Mondlandung des deutschen Schlagers. In Wahrheit war hier aber gar nicht Berlin, sondern das Münchner Literaturhaus. Dort, wo sonst den Hausgöttern Oskar Maria Graf und Thomas Mann gehuldigt wird, fielen nun nicht mehr ganz blutjunge Schlagerfreunde zu einer musikalischen Butterfahrt ein – um gemeinsam mit Alleinunterhalter Sinisa Horn am Keyboard die „Capri-Fischer“ zu singen.

Die Prosecco-selige Lesung „Weine nicht, wenn der Regen fällt“ von Schlagerexperte Rainer Moritz war ebenso erschütternd wie amüsant. Es traf maximaler Fremdschämfaktor auf hochinteressante Schlagerforschung: Wie viele Ameisen traktieren einen beim Kopulieren im Kornfeld? Was hätte Schlager-Hasser Theodor W. Adorno, nicht zufällig nur wenige Monate nach dem Start der „Hitparade“ verstorben, zu Andrea Jürgens gesagt? Und was geschah zwischen 1970 und 1972, als zunächst Daliah Lavi Verzögerungen beim Liebesakt beklagte („Wann kommst Du?“), und dann Vicky Leandros die erlösende Botschaft parat hatte: „Dann kamst Du!“?

Solche Fragen erörtert Moritz in seinem passagenweise sehr lesenswerten neuen Buch „Schlager. 100 Seiten“ (Reclam; 10 Euro). Der Chef des Hamburger Literaturhauses hat eine komplizierte Jugend hinter sich gebracht, in der er versuchte, Mädchen mit dem gemeinsamen Anhören von Chris-Roberts-Kassetten abzuschleppen – und doch nie in den Armen von Barbara lag. Er schreibt von seiner „Ekelfaszination“ für den Schlager, und kann sich dabei nicht ganz überzeugend zwischen ironischer Distanz und Liebe für die alten Helden entscheiden, für Rudi Schuricke, den Justin Bieber des Mittelmeers, oder für „Wimmer-Jule“ Juliane Werding.

Wobei: Wer Schlager mag, hat seinen Spaß an Moritz’ Thesen, dass etwa die Masten in Lolitas „Männer, Masten und Matrosen“ eindeutig zum Phallussymbol taugen. Schlagerfreund Moritz will schon bald wieder ins Literaturhaus einfallen, dann mit bahnbrechenden Gedanken zum Verhältnis zwischen Kurt Tucholsky und Michael Holm.

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