Im Münchner Volkstheater wird Theater gespielt. Was sonst, wird mancher sagen. Aber der junge Regisseur Kieran Joel, der gerade erst sein Diplom an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch absolviert hat, pocht in seiner Inszenierung von William Shakespeares „Romeo und Julia“ (Deutsch von Frank Günther) immer wieder auf die Mittel des Theaters. Mit der um 1595 uraufgeführten Tragödie eröffnete am Mittwochabend Christian Stückls Haus die neue Spielzeit. Der Intendant geht damit konsequent seinen Weg weiter, frische Talente zu fördern – und der Bühnenkunst in München eine vitale, frohgemute Basis zu bereiten. Weg von schwerfälliger Trübsal oder pseudo-avantgardistischen Erziehungsmaßnahmen. So waren denn auch Alt und Jung im Publikum hingerissen und jubelten am Schluss.
Joel zeigt keinen verzopften Shakespeare, schätzt dennoch Tradition und Mythos „Romeo und Julia“ und packt beides offensiv an. Zunächst flimmern über den vordersten Vorhang all die Bilder von dem Liebespaar, die sich, ob von Gemälden, vom Theater oder Film, in unser kollektives Gedächtnis gegraben haben. Veroneser Paläste mit zierlichen Balkönchen hat Jonathan Mertz freilich nicht ins Volkstheater gebaut. Einen Stadtplatz schon. Auf den laufen von rechts, links, vorn (Zuschauerraum!) und hinten flache Treppen zu. Der Raum nach hinten wird durch zwei weitere Vorhänge gegliedert. Mertz macht also die Bühne frei für die jungen Schauspieler, die uns zwei Stunden (ohne Pause) mitleiden und lachen lassen: wegen den Liebenden, den Verzweifelten, den Normalos, den Hassern und Hetzern.
Als Erster erobert sich Silas Breiding als jammernder, sabbernder, kreuzunglücklich komischer Romeo den Raum mit einer wilden Liebesschmerz-Arie – auf Rosalinde. Breiding und Joel formen diesen Kerl systematisch als so gefühlsstarken wie gefühls-unzuverlässigen Mann mit Hang zum Pathos. Selten war ein Romeo so spannend. Das spüren auch Freund(-in) Mercutio (Luise Kinner) und die neue Geliebte Julia (Carolin Hartmann), aus dem verhassten Geschlecht der Capulet. Beide lieben ihn auf ihre Weise, durchschauen ihn dennoch. Kinner hat große Auftritte. Einmal als der Mercutio, der Romeo heilen will und daher die Liebe sophistisch-kabarettistisch zur Lebenskatastrophe ummodelt. Selbst eine Harmoniebeziehung gipfele bloß im „Haarschneidetag“. Zum anderen in der Sterbeszene. Tybalt (Jonathan Müller), Julias Cousin, hat Mercutio tödlich verletzt. Schon das wird nur mit offensichtlich verspritztem Theaterblut angedeutet. Luise Kinner muss nun (für den Regisseur) den Balanceakt vollbringen, Schauspiel als Handwerk vorzuführen – Gaudi – und Schauspiel als Kunst – Erleben, Verstehen – zu retten. Sie und Joel stürzen beinahe ab – aber nur beinahe.
Der Regisseur setzt in seiner stark gekürzten und personell ausgedünnten „Romeo und Julia“-Version entschlossen auf die beiden Grundsubstanzen des Theaters: Lachen und Weinen. Jede gute Tragödie ist Komödie und umgekehrt. Deswegen stürzt er sich etwa auf die Floskelhaftigkeit vieler Darstellungen von Liebe, Schmerz, Wut. Da werden ungeniert Mimen-Ausfälle (Film) klamaukig zitiert. Aber auch der Regisseur flüchtet sich auf der Suche nach Gefühls-Gestaltung in Chiffren wie das Pina-Bauschige Niederstürzen der Körper. Und viele Nebenfiguren werden nicht zu Menschen, sondern zu Karikaturen. Max Wagner ist ein herrlich doofer Graf Paris, der die Liebe digital optimiert. Schließlich habe der Computer 98,2 Prozent Übereinstimmung zwischen ihm und Julia gefunden. Capulet, Julias Vater, findet das eigenartig, aber super. Jakob Immervoll gibt ihn als netten Papa, der bei Widerspruch trotzdem zum Berserker wird und so sein Kind in den Tod treibt. Nina Steils verwandelt Julias Amme in ein skurriles Püppchen, das kämpferisch sein kann und Pater Lorenzo erotisch anregend findet. Den spielt Jonathan Hutter als den Einzigen in der Runde, der normal und bei Verstand ist.
Darin trifft er sich mit der Julia von Carolin Hartmann. Sie verschafft ihrer Figur Wahrhaftigkeit. Das kann Theater eben auch, und das ist das Beste und Schönste an ihm. Die Carolin Hartmann von 2017 beweist William Shakespeares These von 1595: Es gibt die überwältigende, nie erfassbare Liebe. Dazu gehört, dass Kieran Joel während der ganzen Aufführung immer wieder den religiösen Begriff „Feindesliebe“ einfließen lässt.
Nächste Vorstellungen
am 4., 6., 11. und 12. Oktober; Telefon 089/ 523 46 55.