Rosenheim – „Ein großartiger Fotograf ist wie ein Psychologe, der weiß, wie man einem Patienten die Wahrheit entlockt“, so empfängt den Gast der neuen großen Ausstellung in der Städtischen Galerie Rosenheim ein Zitat des britischen Kunstförderers und Publizisten Henry Carroll.
Der Blick fällt schnell auf die großen Porträtfotos an der Querwand aus der Hand von Marie Jo Lafontaine. In Schwarz-Weiß und farbig eingerahmt wirken auf den Betrachter sowohl die offenen als auch die geschlossenen Augen der „Jungen Frauen“, so der Titel des Bilderzyklus. Weltoffenheit, aber auch Bedürfnis nach innerer Einkehr – all dies kann man aus den Gesichtern als „Wahrheit“ im Sinne Carrolls interpretieren. In jedem Fall sind es starke Aufnahmen im Eingangsbereich der Exposition. Es sind die stimmigen Bilder zum Konzept mit dem Titel „Menschen(s)kinder“ aus der Sammlung von Andra Spallart, deren Nachname zu Wortspielen mit „Art“ beziehungsweise „Kunst“ freundlich einlädt.
Die bisher in Wien und Salzburg gemeinsam mit ihrem Mann öffentlich wirkende Kunstsammlerin hat aus über 2200 Fotoarbeiten für Rosenheim exemplarisch zum Motto passende Exponate ausgewählt. Die Doppelbedeutung des Titels enthält ihre Entsprechung in den Details und der Komposition der Aufnahmen. Auf der einen Seite steht die Verantwortung für die Generation kommender Menschenkinder, die ihren Weg ins Leben sucht. Auf der anderen steht der Ausruf „Menschenskinder!“ für ungläubiges Erstaunen, so Andra Spallart. „Sie alle schauen uns in den Porträts der Ausstellung an“, so die Sammlerin.
Diesem Eindruck kann man sich beim Rundgang nicht erwehren. Zwischen den Fotomotiven und dem oder der Betrachtenden entsteht im einen oder anderen Fall eine deutlich zu verspürende Wechselwirkung. Es gibt Einblicke in das Private wie beim farbigen Porträt von „Simon in his blue pyjama“ (1996), aber auch Eindrücke vom Leben in der Öffentlichkeit.
Künstler schauen
dich an
Von Otto Breicha stammen Schwarz-Weiß-Porträts von Elias Canetti, Elfriede Jelinek, Alfred Hrdlicka und weiteren Kunstschaffenden aus der österreichischen Kulturszene. Die Blicke der Künstler fixieren geradezu das betrachtende Gegenüber mit eindringlichen, ernsthaften Blicken.
Farbig wird es im nächsten Raum: Straßenfotografie aus der Zeit vor verschärften Bildrechten im öffentlichen Bereich zeigt junge Frauen beim Shopping in „Sydney 98“ von Beat Streuli. Die Serie „Farbschüttungen“ des Wieners Fritz Simak demonstriert das Zusammenwirken von Porträt und überraschendem Farbeffekt.
Die Sammlung zeigt nicht ausschließlich Momentaufnahmen, sondern auch bewegte Bilder: Weinende Kinder werfen einen hin und her zwischen Mitgefühl und Schmunzeln, haben sie doch auch einen humoristischen Effekt, denn die Kinder werden wie in einem „Modellkatalog“ mit Körpergröße und Hobbys vorgestellt („All for your delight“ von Robert F. Hammerstiel).
Ganz stark wirken die Bilder in einem Raum, der den Themen „Gruppenfotografie“ und „Hell-Dunkel“ gewidmet ist. „Licht ist niemals neutral. Es ist immer voller psychologischer Implikationen“ – auch hierzu gibt es eine griffige Aussage von Henry Carroll. „Christine“ von Ralph Gibson zeigt ein Frauengesicht, teils in Hell, teils im Schatten. Erst beim zweiten Hinsehen offenbart die Aufnahme, dass der Schatten einer weiteren Frau gehört – starkes Bild.
Besonderen Charme und Ausgelassenheit verraten die „Straßenbahnschaffnerinnen“ von Stefan Moses, wie auch seine „Köchinnen“ bei den Gruppenaufnahmen. Es sind nur einige Beispiele, die die Vielfalt und die Möglichkeiten der Porträtfotografie zeigen.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts übernahm das Medium Fotografie teilweise die Aufgaben, die vorher die Malerei und die Skulptur wahrgenommen hatten. Ob „gestellt“ im Studio oder in der Natur bietet die Porträtfotografie viele Möglichkeiten, das Wesen von Menschen facettenreich zu beleuchten.
Daher versteht sich Porträtfotografie nicht nur als das Abbild des Objekts oder Motivs an sich, sondern bezieht auch dessen Umgebung mit ein. Dies kann über reine Formensprache und Ästhetik geschehen, wie „Nina and Simone, Piazza da Spagna, Rome (Vogue)“ aus dem Werk von William Klein zeigt. Schwarz-Weiß-Effekte, Blickrichtungen, Personenbeziehungen – ein stylishes Straßenporträt.
Oder es gelingen Meisterwerke der Zeitgeschichte wie von dem berühmten US-Fotografen Robert Capa: Die „Mothers of Naples lament their son’s death“ erzählen eine tragische Geschichte und zeugen von Verzweiflung in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges. Das Bild „Heimkehrer“ von Ernst Haas aus dem Jahr 1947 illustriert das Schicksal einer ganzen Generation. Ein offensichtlich frisch aus der Gefangenschaft zurückkehrender Kriegsteilnehmer bekommt von einer Passantin das Foto eines Angehörigen gezeigt. Dieses „Bild im Bild“ ist eine enorm starke Aufnahme, denn es demonstriert die zunehmende Wirkmächtigkeit der Fotografie im Alltag, aber auch in der Politik.
Bilder afrikanischer Könige, eine Aufnahme aus dem Vietnamkrieg, ein Gegenüber von König Ludwig und Bilder von Donald Trump runden den Eindruck in diesem zeitgeschichtlichen Kabinett ab. Das Finale des Rundgangs durch eine vielgestaltige Fotoausstellung mit einer hohen Bandbreite zwischen Privatem und Politischem, von schlicht bis experimentell runden Aktfotos mit verschiedenen Aspekten ab.
Porträtfotografie
zum Mitmachen
Der legendäre Robert Doisneau („Der Kuss“) ist mit einem wenig bekannten Foto ebenso vertreten wie Howard Schatz mit einer hochästhetischen Farbaufnahme zweier rothaariger Frauen („Sarah und Chantaal“). Wer Lust hat, nach oder während der Ausstellung von sich selbst Schwarz-Weiß-Porträts zu schießen, kann dies in einer speziellen Fotokabine tun – Porträtfotografie zum Mitmachen!