Welcher Zugewanderte hat in unserer Region noch nicht mit dem Begriff „Wiesen“ seine Probleme gehabt? Die einheimischen Bewohner verwenden „Wiesen“, gesprochen als „Wiesn“, teils in der Einzahl, teils in der Mehrzahl. Hochdeutsch „Wiesen“, auch „Wies’n“, bezeichnet die Mehrzahl von „Wiese“. Demnach sollte doch auch die dialektal-bairische Schreibung „Wiesn“ den Plural von „Wiese“ bezeichnen, oder etwa nicht? Dennoch hört man die Hiesigen sagen: „Warst du scho auf der (nicht: den) Wiesn?“ Zu bedenken ist hier freilich die Tatsache, wonach der Weiler „Wiesen“ bei Kiefersfelden in der Einzahl steht, ebenso wie „Wiesen“ bei Bernau am Chiemsee. Kann das -n tatsächlich sowohl bei der Herbstfest-Wiesn als auch im Ortsnamen „Wiesen“ auch für die Einzahlform stehen?
Nicht nur in unserer Region gibt es Wiese-Orte, die als klar in der Einzahlform stehend erkennbar sind. Sie haben dabei allerdings das -e von „Wiese“ abgelegt: Die Einöden Eiblwies bei Brannenburg, Marchwies in der Gemeinde Samerberg, Schneiderwies in der Gemeinde Vogtareuth und Kreuzwies in der Gemeinde Bad Feilnbach. Nicht zu vergessen die berühmte Wieskirche!
Aber schauen wir einmal ins nicht zu ferne Ausland, um die strittige Sachlage mit etwas Distanz zu betrachten.
In Südtirol gibt es die Ortsnamen „Wies“, „Wiese“ und, gleich mehrfach, „Wiesen“. Die italienischen Übersetzungen lauten bei den in Südtirol zweisprachigen Ortstafeln wie folgt. „Wies“ heißt italienisch „Prato“; beides steht korrekt in der Einzahl. „Wiese“ in der Gemeinde Gsies heißt „Prati“. Hiermit wird aber unterstellt, Wiese sei die Mehrzahlform von Wies! Damit liegt aus unserer Sicht ein Übersetzungsfehler vor: Die Einzahl „Wiese“ sollte konsequenterweise in der Einzahl „prato“ stehen!
„Wiesen“ in der Gemeinde Welsberg lautet „Prati“, aber „Wiesen“ in der Gemeinde Rasen-Antholz heißt „Prato“. „Wiesen“ in der Gemeinde Pfitsch wird mit „Prati“ übersetzt. Nur eine Übersetzung aber kann hier richtig sein: Entweder Prato oder Prati.
Die Auflösung liefert ein etwas ausführlicherer deutscher Wortlaut bei der Nennung der Wiesen-Orte: 1555 lautet ein Eintrag zum Antholzer „Wiesen“: „Lehen an der (nicht: den) Wissen“. Also: Einzahl! Nur das Antholzer „Wiesen“ ist also bei der in südbairischer Sprache vorliegenden Einzahlform „Wiesen“ korrekt mit der italienischen Einzahlform „Prato“ wiedergegeben worden!
Nun könnte man vorbringen, „Wiesen“ stehe in dem bei Ortsbezeichnungen des Spätmittelalters oftmals üblichen Dativ Plural. So heißt es ja „Mauerkirchen“, obwohl sich dort nur eine Kirche befindet.
„Vo Ort zu Ort“ meint aber, das -n bei der Form des ersten Falles (Nominativ) Einzahl, nämlich bei „die Wiesen oder Wiesn“, „Achen oder Achn“, „Filzen oder Filzn“, „Kirchen oder Kirchn“, stamme per Analogieausgleich von den Einzahlformen des zweiten, dritten oder vierten Falles! Deutlich sichtbar wird das ja im Zitat „Lehen an der Wissen“ (siehe oben!).
So hoffen wir, hier den italienischen Übersetzern Südtirols und den hiesigen Zuwanderern etwas behilflich gewesen zu sein!