Prien – Die Schön Klinik Roseneck ist eine der bundesweit führenden Fachkliniken zur Therapie von Magersucht und anderen Essstörungen für erwachsene und jugendliche Patienten. Jetzt bekommen Ärzte und Therapeuten Unterstützung bei der Behandlung – von einer App. „Das ist meine dritte Therapie“, erklärt Cami aus Nürnberg (Name von der Redaktion geändert). Dieses Mal will sie endgültig von der Magersucht loskommen. Die App „Recovery Record“, die sie sich gleich nach ihrer stationären Aufnahme in die Schön Klinik Roseneck heruntergeladen hat, ist für die 18-Jährige Tagebuch, Kalender und Motivationscoach. Täglich „spielt“ sie mit der App. Aber auch die Ärzte und Therapeuten in der Klinik versprechen sich große Erfolge von dieser neuen und außergewöhnlichen Therapieform, sind doch die meisten ihrer Patientinnen und Patienten noch recht jung und ist das Smartphone doch deren ständiger Begleiter. Die Jugendabteilung der psychosomatischen Fachklinik in Prien-Stock ist in wenigen Jahren auf fast 150 Plätze gewachsen. Cami begann in der Pubertät, sich in ihrem Körper unwohl zu fühlen, dann kam ein Schulwechsel hinzu, der Stiefvater missbrauchte sie. Und so begann sie, immer weniger zu essen und mehr und mehr Sport zu treiben. Sie wollte wieder zum Mädchen werden und nicht wie eine Frau aussehen. In ihren „besten“ Zeiten magerte sie sich auf 37 Kilogramm bei 1,65 Körpergröße ab. Zwei längere Therapien halfen nur kurzfristig, ehe sie wieder rückfällig wurde. Schließlich empfahl ihr eine Mitarbeiterin in einer psychologischen Beratungsstelle die Schön Klinik Roseneck, die als eine der führenden Fachkliniken bundesweit gilt. Dort wurde sie am 2. August mit 39 Kilogramm aufgenommen. Jetzt, kurz nach ihrer Entlassung und beim Gespräch mit der Chiemgau-Zeitung, wiegt sie 52 Kilogramm. Natürlich weiß sie, dass sie das niemals allein geschafft hätte. Das „Spielen“ mit und das tägliche Anwenden der App „Recovery Record“, die frei im „App-Store“ verfügbar ist, war und ist Teil des Therapie-Angebots, das sie durchlaufen hat. Etwa ein Drittel der Patienten mit Essstörungen nutzt inzwischen bereits diese App, berichtet Chefärztin Dr. Silke Naab im Gespräch mit der Chiemgau-Zeitung. „Dass wir diesen Schritt gehen, ist schon außergewöhnlich“, sagt die Chefärztin. „Wenn mir vor einigen Jahren jemand gesagt hätte, wir würden eine im App-Store frei verfügbare Applikation regulär in unsere Therapie aufnehmen, hätte ich das nicht geglaubt. Aber die Resultate stimmen optimistisch, und die teilnehmenden Patienten können sehr von der App profitieren“, zieht sie im Gespräch mit der Chiemgau-Zeitung ein erstes, positives Zwischenfazit. Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck, sieht einen positiven Nebeneffekt beim Nutzen des Handys, wenngleich er betont, das zu exzessiver Handy-Gebrauch auch Suchtgefahren birgt. Denn die App sei als Ersatz für Ernährungsprotokolle und noch viel mehr gedacht und könne den Patienten auf dem Weg in ein gesünderes Leben begleiten. Jeder Nutzer könne beispielsweise seine eigenen „Bewältigungsstrategien“ für schwierige Phasen bei „Recovery Record“ eingeben, seien es Texte, Bilder oder Musik als Motivation. In erwartbar schwierigen Situationen schicke die App dann eine persönliche Nachricht, um den Nutzer positiv zu verstärken. Gleichzeitig können Therapeuten und Patienten über die App miteinander in Kontakt treten. Voderholzer erzählt ein bisschen mehr über die App, die 2011 in den USA entwickelt wurde und auf jahrzehntelanger, verhaltenstherapeutischer Forschung basiere. Drei Monate lang habe die Fachklinik am Chiemsee Nutzen und Praktikabilität im therapeutischen Alltag untersucht, begleitet von der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München unter seiner Leitung. Das Ergebnis: Der Body-Mass-Index (BMI) der App-Nutzer entwickelte sich günstiger als jener einer Vergleichs-Kontrollgruppe. Das galt für den Zeitpunkt der Entlassung und auch noch acht Wochen danach. Voderholzer betont, dass die Behandlung von Magersucht auf freiwilliger Zusammenarbeit basieren müsse. Da helfe nicht allein eine App, sondern das ständige „Motivieren, Ermuntern und Bestärken“, auch der Eigenverantwortlichkeit. Cami berichtet aus der täglichen Anwendung des technischen Helfers,, dass sie ihrer Therapeutin eine Nachricht mit Foto geschickt habe, wenn sie wegen der Mahlzeitenmenge oder -zusammenstellung sehr unsicher war. Eine kurze Bestätigung als Antwort, ein Lob oder ein Tipp hätten geholfen, stundenlange Grübeleien und Zweifel zu vermeiden. Die 18-Jährige will unbedingt wieder selbstständig zuhause leben. Die App könnte ein wichtiger Begleiter dabei sein. elk/db