Berlin – Die Welt steht an der Schwelle zu einer Pandemie: Davon ist auch Prof. Christoph Drosten überzeugt. „Wir werden in den nächsten Tagen sehen, dass neue Fälle und kleine Fallgruppen wie die Pilze aus dem Boden schießen werden“, sagte der Virologe von der Berliner Charité am Donnerstag in einer TV-Talkrunde mit Maybrit Illner zum neuen Coronavirus. Dabei sagte er auch: „Es wird schlimm werden.“
Wie schlimm? Das kann im Moment keiner vorhersagen. Nur so viel: Deutschland werde in Europa eines der Länder mit den höchsten Fallzahlen sein, „weil unsere Bevölkerung sehr reisefreudig ist“. Und Epidemiologische Zahlen deuteten darauf hin, dass sich die Coronavirus-Welle „wie eine ordentliche Grippe-Pandemie“ verhalten werde, erklärte Drosten in der Sendung weiter.
Damit meinte er nicht die jährliche Grippewelle im Winter, die sich zum Glück langsam ihrem Ende zuneige. Nein. Drosten erinnerte an die „beiden letzten Pandemien in den Jahren 1957 und 1968“. Eine Aussage, bei der einem flau werden kann – auch oder gerade weil Drosten hinzufügte: „Das war eine andere Zeit. Wir hatten eine andere Medizin, wir waren eine andere Gesellschaft.“
Dabei zog der „Feind“ schon damals in „Milliardenheeren unaufhaltsam wie eine Wetterfront nach Süden“. So war es am 3. Juli 1957 im „Spiegel“ zu lesen; rund ein halbes Jahr, nachdem der Erreger aufgetaucht war. Vermutlich irgendwo in China. Dort war es einem menschlichen Influenza-Virus gelungen, seine genetischen Eigenschaften mit denen eines Vogelgrippevirus zu kombinieren. Das Ergebnis war ein ganz neues Influenzavirus vom Subtyp A/H2N2; eines, das sehr leicht von Mensch zu Mensch übertragbar war.
Das gilt aber auch für das neue Virus „Sars-CoV-2“, das gerade die Nachrichten in aller Welt beherrscht. Der Erreger springe „von Rachen zu Rachen“, sagte Drosten. Anders als die Erreger von SARS und MERS, die der weite Übertragungsweg von Lunge zu Lunge ausgebremst hatte – mit ein Grund, warum sich diese schweren Lungenkrankheiten nicht noch weiter ausbreiten konnten.
Das neue Coronavirus vermehre sich aber „aktiv im Rachen“ – und das schon, wenn Infizierte kaum Symptome haben und daher auch nicht daheim bleiben. Warum sie so früh wenig merken, erklärte Drosten kürzlich dem „Tagesspiegel“. Das Krankheitsgefühl werde vor allem in der Lunge ausgelöst. Was er dabei noch sagte: „So viel Virus sieht man selten – nicht einmal bei der Influenza.“
Droht also eine Neuauflage der „Asiatischen Grippe“? So wird die Influenza-Pandemie der Jahre 1957 und 1958 genannt. Es war die zweitschwerste des vergangenen Jahrhunderts – gleich nach der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 um die Welt ging. Sie tötete dabei mehr Menschen als im ersten Weltkrieg umkamen: mindestens 20 Millionen, vielleicht sogar fünf Mal so viele. Die Schätzungen gehen weit auseinander, weil viele Opfer nie dokumentiert wurden. Im Deutschen Reich geht man von etwa 426 000 daran Gestorbenen aus.
Dieses Ausmaß hat die Asiatische Grippe nicht erreicht. Ihr sind wohl ein bis zwei Millionen Menschen weltweit zum Opfer gefallen. Und: Dieses Virus war gekommen, um vorerst zu bleiben. Als der große Ausbruch abgeebbt war, folgten jährliche Wellen. Bis es 1968 von einem anderen Influenzavirus abgelöst wurde – dem Erreger der bislang letzten Pandemie: der Hongkong-Grippe. Sie soll von 1968 bis 1970 rund eine Million Menschen weltweit das Leben gekostet haben, vielleicht mehr. Hierzulande sollen es rund 30 000 Opfer gewesen sein.
Jetzt stehen Deutschland und die ganze Welt erneut an einem Scheideweg: Eine Pandemie, ausgelöst durch „Sars-CoV-2“, halten viele Experten zwar für nicht mehr aufzuhalten. Doch wo in den Reigen der Pandemien sich dieses Virus einreihen wird, entscheidet sich in den nächsten Wochen und Monaten. „Wir müssen uns fragen, in welcher Geschwindigkeit so 60 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung mit diesem Virus jetzt Erfahrung machen wird“, sagte Drosten im ZDF. Wird es in mehreren Wochen durchs Land rasen – das wäre das Schlimmste – oder in einem Zeitraum von zwei Jahren? Niemand weiß es.
Doch Drosten sagt auch: „Die beste Chance, das zu beeinflussen, haben wir jetzt im Moment.“ Dann vergleicht er Deutschland mit einem Spielfeld, auf das ein Funkenregen niedergeht. Unsere Aufgabe: Möglichst jeden Funken aufspüren, erkennen, austreten. Oder anders gesagt: Infizierte finden, isolieren und weitere Ansteckungen verhindern. Genau so also, wie es die Behörden derzeit „mit aller Energie“ tun. Aber: „Irgendwann lodern überall kleine Flämmchen. Dann kann man nichts mehr machen, wenn man keinen Feuerlöscher hat.“ Eine Impfung, mit der sich der virale Flächenbrand löschen ließe, gibt es allerdings noch nicht. Drosten rechnet frühestens im Sommer 2021 mit einer Zulassung.
Jetzt komme es vor allem darauf an, Zeit zu gewinnen. In den wärmeren Monaten, so die Hoffnung, könnte dem Coronavirus die Puste ausgehen. Verhält es sich wie andere Erreger seiner Virusfamilie, werden ihm UV-Strahlung und Trockenheit zusetzen. Wenn sich Menschen nicht mehr in engen Räumen und Bahnen drängen, wird Sars-CoV-2 seltener von einem zum anderen springen. Trotz aller Sorge ist Drosten daher optimistisch. „Wir werden es gut schaffen, das Ganze zu verzögern. Wir haben extrem gute Gesundheitsstrukturen.“