München – Sie geht nach vorne, ganz ruhig, nickt freundlich hoch zum Präsidium. Sie legt lautlos ihr Manuskript aufs Pult, stützt sich mit beiden Händen ab. Dann, einen Atemzug später, beginnt Gitta Connemann von Wendt zu erzählen, ihrem Mitarbeiter. „Er hat drei Monate gewartet, auf einen Anruf, den Anruf.“ Die Ärzte hatten eine lebensbedrohliche Krankheit bei dem 33-Jährigen festgestellt, einen Monat nach der Geburt seines Kindes. „Eine Transplantation war seine einzige Chance“, sagt Connemann. „Aber der Anruf kam nicht. Wendt starb am 17. Juli.“
Als die 55-jährige CDU-Abgeordnete aus Niedersachsen das erzählt, ist es totenstill im Bundestag, kein Räuspern, kein Tuscheln, nichts. Es sind die wohl emotionalsten Momente an einem sehr emotionalen Tag, an dem nicht Parteibindung, sondern das Gewissen des Einzelnen zählt. Die Abgeordneten sollen ohne den üblichen Fraktionszwang über eine Reform der Organspende in Deutschland entscheiden. Zwei Vorschläge liegen auf dem Tisch: Der weitreichendere stammt von einer Parlamentariergruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Danach soll jeder automatisch Organspender sein, es sei denn, er widerspricht. Connemann sagt klar: „Dafür kämpfe ich.“
Ihre Hoffnung wird enttäuscht. Die Abgeordneten lehnen den Vorschlag ab, überraschend deutlich sogar, und stimmen für das moderatere Modell einer zweiten Parlamentariergruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und den Münchner CSU-Mann Stephan Pilsinger. Jetzt bleibt im Grunde alles, wie es ist. Allerdings sollen die Bürger bei Arzt- oder Behördenbesuchen künftig aktiv gefragt werden, ob sie im Falle ihres Hirntods Organe spenden wollen. Außerdem soll es ein Online-Register geben.
Es ist das Ende eines monatelangen Ringens um den richtigen Weg, der mit gewichtigen ethischen und rechtlichen Fragen gepflastert ist. Keiner der Abgeordneten bestreitet das Problem selbst: die viel zu niedrigen Spendenzahlen. Jährlich sterben in Deutschland rund 1000 Menschen, die dringend ein Organ benötigen, obwohl die Spendebereitschaft Studien zufolge hoch ist.
Wie unterschiedlich die Lösungsansätze aber sind, wird gestern noch mal recht eindrücklich klar. Deutschland sei „Schlusslicht in Europa“, was Organspenden betrifft, sagt Karl Lauterbach, von Beruf Arzt und – trotz SPD-Parteibuchs – ein Mitstreiter Spahns. Jene Länder in Europa, in denen die Widerspruchslösung gelte, stünden deutlich besser da. Dann holt er zum großen Schlag aus. Wenn er es brauche, nehme jeder ein Organ an, sagt er. Es sei geradezu „unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht zumindest bereit zu sein, Nein zu sagen, wenn man selbst spenden soll“.
Da geht das erste Raunen durchs Plenum, die Gegenseite ist ein bisschen schockiert – und sieht die Sache völlig anders. Baerbock verweist auf das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen, das ein aktives Ja zur Organspende erfordere. „Der Mensch“, sagt sie, „gehört nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft, er gehört sich selbst“. Das Kernproblem liegt ihrer Meinung nach woanders: Die Kliniken meldeten einfach zu wenige Fälle hirntoter Patienten, die für eine Transplantation infrage kämen. 2019 seien es nur 8,2 Prozent gewesen.
Aber es sind nicht die Argumente – teils schon zigfach vorgetragen –, die diesen Vormittag ausmachen. Es sind der nachdenkliche Ton und der Respekt vor den anderen Positionen. Und es sind die Geschichten von Betroffenen, mit denen viele Abgeordnete versuchen, ihre Positionen zu untermauern. Claudia Schmidtke (CDU) erzählt von Marius, der als Achtjähriger ein Spenderorgan brauchte. Aus Mangel an Alternativen spendeten beide Eltern jeweils einen Teil ihrer Lunge. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) hält einen Chirurgen dagegen, der die Widerspruchslösung ablehnt. Er habe ein „schlechtes Gefühl“ dabei, einen ihm „unbekannten Willen“ umzusetzen.
Die Lager gehen quer durch die Fraktionen – mit Ausnahme der AfD, die einen eigenen, wenn auch chancenlosen Vorschlag macht. Die Lösung des Fraktionszwangs gab es zuletzt bei der Abstimmung über die Ehe für alle, damals von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst initiiert. Diesmal kommt sie arg verspätet – die Diskussion läuft da schon seit mehr als anderthalb Stunden – und unterhält sich dann mit dem SPD-Mann Karamba Diaby, dem sie nach dem Angriff auf sein Bürgerbüro Unterstützung zusagt.
Auch ein anderer hält sich lange zurück: Gesundheitsminister Spahn, der sich große Hoffnungen gemacht hatte, sein Projekt durchzubringen. Er spricht als Letzter. „Ja, die Widerspruchslösung ist eine Zumutung“, sagt er. „Aber eine, die Leben rettet.“ Als Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki wenig später das Abstimmungsergebnis vorliest, gefriert Spahns Blick für einen auffällig langen Moment. Später sagt er, er werde die Pläne nun voller Tatkraft umsetzen.
Jetzt muss sich zeigen, ob die beschlossene Mini-Reform wirkt. Die Kirchen sind froh, dass Spahns Vorschlag vom Tisch ist, andere sind bitter enttäuscht. Professor Christian Hagl, Direktor der Herzchirurgie am Münchner Klinikum Großhadern, sagt, für die Patienten auf den Wartelisten sei die Entscheidung ein Drama. „Der Bundestag hat hier einen historischen Fehler gemacht.“ Er sei skeptisch, ob mehr Werbung zu mehr Spendern führt.
Marius Schäfer, 19, der ohne die Lungen-Spende seiner Eltern wohl nicht mehr leben würde, sitzt auf der Tribüne des Bundestags, neben ihm sein Vater. Viele Betroffene hätten auf diesen Tag gebaut, sagt er durch seinen Mundschutz hindurch. Für sie fühle sich die Entscheidung an „wie ein Schlag ins Gesicht“.