München – Walid Abu Rashed steht hinter einem Verschlag aus Pressspanplatten. Seinen Kopf hat er durch das eckige Loch in der Mitte gesteckt. Sein schwarzes Haar steckt unter einer blonden Perücke, in der rechten Hand hält er einen blau-gelben Uhu. Vor ihm sitzen etwa zwei Dutzend Kinder auf Trümmern und warten gespannt, bis die Vorstellung beginnt. Walid Abu Rashed ist Puppenspieler in Syrien und versucht, den vom Krieg traumatisierten Kindern etwas inneren Frieden zu geben.
Das Foto hat der AFP-Fotograf Zein Al Rifai vor einer Woche in Saraqib in der Provinz Idlib gemacht. Es ist Sinnbild für eine geraubte Kindheit. Krieg, Armut, Hunger, Krankheit, Zwangsprostitution, Kinderehen – die Liste der Vergehen an Kindern weltweit ist lang und vielfältig. Neue Bedrohungen sind dazugekommen: Cybermobbing, Online-Missbrauch – oder auch der Klimawandel, den die Kinder von heute werden bewältigen müssen.
Dass Kinder schützenswerte Wesen sind, ist keine neue Erkenntnis. Vor 30 Jahren, am 20. November 1989, hatten sich die Vereinten Nationen deshalb auf eine Kinderrechtskonvention geeinigt (siehe Artikel rechts). Der Bericht, den das Kinderhilfswerk Unicef am Montag anlässlich des Jubiläums vorgelegt hat, zeigt aber, wie weit Wunsch und Wirklichkeit noch auseinanderdriften.
Der Bericht beinhaltet durchaus Positives. So ist die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren seit 1989 weltweit um rund 60 Prozent gesunken, liegt aber immer noch bei im Schnitt 15 000 jeden Tag. Deutlich mehr Kinder gehen zur Grundschule, in vielen Ländern hat sich die Rechtslage für Kinder verbessert. Jedoch sind die Fortschritte ungleichmäßig verteilt. In Entwicklungsländern ist die Sterblichkeit laut Unicef nach wie vor doppelt so hoch wie in wohlhabenden Haushalten. Bei Zwangsehen ist der globale Trend laut Bericht zwar rückläufig, für Mädchen aus besonders armen Verhältnissen sei das Risiko aber gestiegen. In Afrika fehlt es vor allem südlich der Sahara an Impfschutz, die Zahl der Masernfälle weltweit hat sich von 2017 auf 2018 mehr als verdoppelt.
„Vor allem für die Ärmsten hat sich seit 1989 wenig zum Guten gewendet“, sagte Georg Graf Waldersee, Vorsitzender von Unicef Deutschland, am Montag in Berlin. Eines von vier Kindern wächst heute laut Unicef in Ländern auf, die von Konflikten und Naturkatastrophen betroffen sind. „Die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der UN-Kinderrechtskonvention und deren Verwirklichung ist ein Armutszeugnis für unsere Welt“, sagte Louay Yassin, Sprecher der SOS-Kinderdörfer, am Sonntag in München. Auch Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen. Die Zeit sei reif, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern.
Denn auch im reichen Deutschland liegt einiges im Argen. Rund 2,4 Millionen Kinder und Jugendliche (17,3 Prozent) waren laut Statistischem Bundesamt 2018 von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Ein immerhin leichter Rückgang um 0,7 Prozent. Dafür stellten die Jugendämter eine um zehn Prozent gestiegene Zahl an Kindeswohlgefährdungen aufgrund körperlicher und sexueller Gewalt sowie Vernachlässigung fest. 50 400 der 13,6 Millionen deutschen Minderjährigen seien betroffen, teilte das Statistische Bundesamt mit. 95 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland waren 2018 in einem Heim untergebracht, weitere 81 400 lebten im vergangenen Jahr in einer Pflegefamilie.
Die Justizministerin des Bundes, Christine Lambrecht (SPD), hat angekündigt, die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ohne weitere Verzögerung voranzutreiben. „Die UN-Kinderrechtekonvention wird 30 Jahre, und genauso lange diskutieren wir schon über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz“, sagte sie der Augsburger Allgemeinen. Sie werde noch heuer einen Gesetzentwurf vorlegen. „Das sind wir unseren Kindern schon lange schuldig.“
Eine Bund-Länder-Kommission hat drei Formulierungsempfehlungen erarbeitet. In einer Variante soll das Kindeswohl „angemessen“ berücksichtigt werden, in einer zweiten „wesentlich“ und in der dritten „vorrangig“. Variante drei gilt in Regierungskreisen als Favorit. Die Grünen schlagen den Begriff „maßgeblich“ vor. Für eine Grundgesetzänderung ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und auch im Bundesrat erforderlich.
Die internationale Kinderhilfsorganisation terre des hommes fordert, die Grundgesetzänderung noch in der laufenden Legislaturperiode umzusetzen. Zudem müssten die Rechte der weltweit rund zwei Milliarden Kinder global entschiedener durchgesetzt werden. Noch immer seien 150 Millionen Kinder chronisch unterernährt, 152 Millionen müssten arbeiten, davon die Hälfte in Steinbrüchen, Minen, Textilfabriken und Bordellen.