Schongau – Günther Graun kann der Ewigkeit dabei zusehen, wie sie kürzer wird. Das verdankt er seinem Beruf. Er ist Friedhofswärter auf dem Waldfriedhof in Schongau – und beobachtet seit Jahren, wie sich die Wünsche für die letzte Ruhe verändern.
Gerade steht er vor einem Grab, das vor Jahrzehnten angelegt wurde. Es ist das einzige in dieser rund 100 Meter langen Reihe, das übriggeblieben ist. Alle anderen Gräber rechts und links davon sind längst aufgelöst. Die ewige Ruhe dauert in vielen Fällen nur noch zwölf Jahre – genau eine Liegedauer. Wo einst Gräber waren, liegt nun Herbstlaub auf Rasenflächen. Graun will hier bald eine neuen Bereich für Baumbestattungen anlegen. Es wäre bereits der zehnte hier auf dem Waldfriedhof. Und vermutlich wird schon in einigen Monaten ein elfter folgen, sagt er. „Es dauert nie lange, bis diese Grabstellen vergeben sind.“
Immer mehr Menschen möchten statt eines großen Grabsteins eine pflegeleichte kleine Grabstätte. Nicht nur in Schongau ist das so. Die Gesichter der Friedhöfe verändern sich, sagt Jörg Freudensprung, der Geschäftsstellenleiter des bayerischen Bestatterverbandes. „Weil sich unsere Gesellschaft verändert.“ Die Menschen sind mobiler, leben oft nicht mehr dort, wo ihre Angehörigen leben. „Es geht gar nicht darum, Geld zu sparen. Die Leute geben sogar mehr Geld aus, wenn sie sich dafür weniger um Gräber kümmern müssen.“ Klein und fein sei mittlerweile mehr gefragt als groß und auffällig, berichtet er. Das erklärt, warum der Anteil der Urnenbestattungen seit Jahren zunimmt. Laut Umfragen wünscht sich nur noch jeder vierte Deutsche ein klassisches Grab. Vor sechs Jahren waren es noch doppelt so viele.
Die meisten Friedhöfe haben längst auf diesen Trend reagiert – mit Urnenwänden, Urnenstelen. Und immer mehr auch mit dem Angebot von Baumbestattungen. Dabei handelt es sich um kleine Grabfelder in der Nähe von Bäumen. Eine kleine Platte im Boden oder ein Stein weist daraufhin, dass sich dort ein Urnengrab befindet. Im Winter liegt Schnee darauf, jetzt im Herbst das Laub. Diese Gräber sind Teil der Jahreszeiten, Teil der Natur. „Das ist eine Nische, die immer mehr Friedhöfe anbieten“, erklärt Freudensprung. Auch in Bamberg, wo er als Bestatter arbeitet, gibt es das Angebot seit einigen Jahren. „Die Nachfrage ist gigantisch“, berichtet er.
Das ist auch in Schongau so, erzählt Graun, während er über den Waldfriedhof läuft. Die ersten Baumgräber hat er vor sieben Jahren angelegt. „Alle waren sofort vergeben.“ Er musste direkt eine neue Fläche suchen. Sie zu finden, ist nicht schwer. „Bei uns werden jährlich 15 bis 25 Gräber aufgelöst“, sagt er. Immer mehr Flächen bleiben frei. Und die nutzen Graun und seine Kollegen, um mehr Baumbestattungen anzubieten. „Mir gefällt es, wie der Friedhof dadurch vielfältiger wird“, sagt er, während er einige Laubblätter von den Grabstellen streicht, die unter einer alten Eiche angelegt sind. „Für uns Friedhofsgärtner bedeuten Baumbestattungen mehr Arbeit.“ Im Sommer muss das Gras gemäht werden, im Herbst das Laub entfernt.
Deshalb ist ein Urnengrab unter Bäumen auch nicht unbedingt billiger als eine Grabstelle für einen Sarg. Das günstigste Einzelgrab kostet auf dem Waldfriedhof 60 Euro pro Jahr, ein Urnengrab 43 Euro – und eine Baumbestattung 52 Euro oder sogar 99 Euro bei einer Grabstelle für zwei Urnen in einer Edelstahlröhre. „Diese Gräber haben den Vorteil, dass man die Urne einfach mitnehmen kann, wenn man umzieht“, erklärt Graun.
Auch Bayerns Steinmetze spüren schon lange, dass die Friedhöfe einen Wandel erleben. Ein Grund zur Panik sei das aber nicht, betont der Landesinnungsmeister Hermann Rudolph. Viele Steinmetze sind kreativ geworden und haben ihr Angebot längst angepasst, berichtet er. Auf dem Münchner Westfriedhof sind beispielsweise Mosaikgärten entstanden. „Die Aufträge, die wir bekommen, werden individueller“, sagt Rudolph. Das betrifft die Form und die Größe, aber auch die Dauerhaftigkeit. Gräber sind nicht mehr für die Ewigkeit angelegt, das fällt auch Rudolph auf.
Neue Trends hat es immer schon gegeben, sagt Bestatter Jörg Freudensprung. Zum Beispiel vor ein paar Jahren, als immer mehr Menschen die Asche ihrer Angehörigen zu Diamanten pressen lassen wollten. Heute machen das kaum noch Angehörige. „Für uns Bestatter gibt es nichts schöneres, als die letzten Wünsche von Verstorbenen oder ihren Familien umsetzen zu können“, sagt er. Auch wenn sie manchmal etwas ausgefallen sind. Als er einmal vor einem pinken, mit Blinklichtern dekorierten Urnengrab in Bad Kissingen stand, hat ihm sein Bestatterherz schon etwas wehgetan, erzählt er. „Aber so ist das eben, wenn man auf Friedhöfen mehr Individualität zulässt.“
Günther Graun hat viel über das Trauern gelernt, seit er vor einigen Jahren das Amt des Friedhofsgärtners übernommen hat. „Erst hat es sich wie eine Strafversetzung angefühlt“, erzählt er. Inzwischen kann er sich keinen spannenderen Arbeitsplatz mehr vorstellen. Der Friedhof ist ruhig, aber er kann als Gärtner kreativ sein. Auf die Nachfrage reagieren. „Jeder sollte eine Wahl haben“, findet auch er. „Das Leid ist schließlich groß genug.“ Er hat viele traurige Geschichten gehört. Er hat Angehörige kennengelernt, die jeden Tag zu den Gräbern ihrer Liebsten kommen. Einige kennt er inzwischen so gut, dass sie ihm gelegentlich ein Stück Kuchen mitbringen. Für seine Arbeit braucht er viel Taktgefühl und Sensibilität – aber er bekommt auch viel Dankbarkeit zurück.
Wie wichtig ein Grab für Angehörige ist, sieht er jeden Tag, wenn er über den Friedhof läuft. Nicht nur zu dieser Jahreszeit, kurz vor Allerheiligen geben sich die Menschen viel Mühe. Auch die Baumgräber sind das ganze Jahr über liebevoll dekoriert. „An einigen stehen immer frische Blumen, an anderen brennen immer Kerzen.“ Oft sieht er im Vorbeigehen kleine Figuren oder Symbole, die eine Bedeutung haben, die nur die Familien kennen. All das ist für Günther Graun der Beweis dafür, dass sich zwar die Erscheinungsformen der Gräber verändern – aber nicht die Bedeutung, die sie für die Menschen haben.