Die schmackhafte Gefahr

von Redaktion

Das feuchtwarme Wetter lässt in den Wäldern die Pilze sprießen. Doch es existieren mehrere tausend Pilzarten in Deutschland. Wer sich nicht auskennt, bringt sich und andere in Gefahr, sagt Pilzberater Helmut Grünert.

VON CARMEN ICK-DIETL

München – Helmut Grünert dreht den kleinen Pilz zwischen den Fingern, betrachtet ganz genau den Stiel. „Wo haben Sie den denn gefunden?“, fragt er. Sein Gegenüber zögert. „In Freimann.“ Der ältere Herr will offenbar seinen Pilzplatz nicht preisgeben. Doch Grünert möchte eigentlich Auskunft übers Umfeld, in dem der Pilz mal stand. „Unter Birken“, erinnert sich der Sammler. „Den hab‘ ich die letzten Jahre immer gegessen“, ergänzt er etwas kleinlaut. „Sie verzehren einen Pilz, ohne ihn zu kennen?“ Grünerts Blick wird streng. Dann die Auflösung. „Das ist ein Netzstieliger Hexenröhrling, der ist gut gekocht genießbar, schmeckt aber nach gar nichts.“

Unkundige Sammler bringen sich und andere in Gefahr. Den Netzstieligen Hexenröhrling zum Beispiel kann man leicht mit dem Satanspilz verwechseln. „Wer unbekannte Pilze an seine Mitmenschen verfüttert, hat am Ende eventuell ein juristisches Problem“, erklärt Grünert. Mehr als 7000 Pilzarten gebe es in Bayern, sagt der Vorsitzende des Vereins für Pilzkunde München e.V.. „Die Variationsbreite ist extrem.“

Grünert ist eine Koryphäe der Mykologie, also der Pilzkunde, in Deutschland. Er hat Pilzbücher geschrieben, sammelt selbst seit seiner Kindheit. Seine Frau Renate teilt die Leidenschaft. Die beiden leiten den 500 Mitglieder starken Pilzkunde-Verein, geben VHS-Kurse, sind Sachverständige beim Giftnotruf, besuchen Kongresse in ganz Europa. Gerade waren sie auf Fortbildung in Norwegen. Heute begutachtet Helmut Grünert in der Rathaus-Information am Marienplatz die Funde von Hobbysammlern. Und das ganz kostenfrei.

Martina Tischler aus Neuhausen hat zwei verschiedene Arten im Korb. „Maronenröhrlinge“, analysiert der Pilzexperte. „Ein Speisepilz, aber stark mit Cäsium belastet.“ Unproblematisch, solange man nicht mehr als ein Kilo pro Woche verspeist. Die andere Art versetzt das Publikum, das sich um den Berater geschart hat, in Begeisterung. Prächtige Steinpilz-Exemplare! Tischler war erst wenige Stunden vorher im Wald. „Da steht derzeit echt viel, aber ich nehme nur mit, was ich kenne.“ Trotzdem ist sie zur Pilzberatung gekommen. „Das beruhigt mich wirklich unheimlich.“

Grünert macht sich bei jedem Kunden Notizen. Auch zur Sicherheit. „Es könnt ja mal ein Mann seine ungeliebte Ehefrau vergiften und sich dann auf die Pilzberatung berufen.“ Deshalb lässt er sich alle Pilze aus Körben, Tüten und Kisten vorlegen. „Nicht, dass da irgendwas durchs Raster fällt.“ Bei jedem Pilz schließt sich ein kleiner Vortrag über die Merkmale an. Der Pilzberater ist nicht nur dazu da, um den Sammlern ihre Funde zu sortieren. Der 72-Jährige will die Kriterien für eigenverantwortliches Erkennen vermitteln. „Es ist nicht zielführend, einfach Pilze zu suchen und dann zur Pilzberatung zu gehen.“

Eva und Ekkehard Overbeck aus Seefeld am Ammersee haben einen ganzen Korb mitgebracht. Zu ihrem Leidwesen ist nicht alles gut. „Ein Tiger-Ritterling, einer der heftigsten Giftpilze, da kommen Sie ohne Krankenhaus nicht weg.“ Selbst von einigen essbaren Exemplaren rät Grünert ab. „Da sind die Proteine schon mit drin.“ Fichtenreizker seien im Sommer zu 99 Prozent verwurmt. „Ein Mutterl hat mal zu mir gesagt: Da setz ich einfach meine Brille ab, denn wenn ich die nicht nehm’, krieg’ ich nie Pilze zu essen“, erzählt Grünert. Am Ende bleibt wenig übrig. Eva Overbeck ist etwas enttäuscht. „Meine Schwester findet körbeweise Steinpilze und ich suche jetzt schon seit Jahren danach.“ Doch ihr Jagdfieber ist angefacht. „Ich gehe jetzt in eine Pilzschule.“

An diesem Vormittag landen viele Pilze im Müll. „Ein Wurzelnder Bitterröhrling, ungenießbar, reizt die Magenschleimhaut.“ Grünert lässt den Sammler kurz daran lecken. Sofort verzieht der das Gesicht. „Viele Leute schmecken Bitterstoffe nicht richtig“, erklärt der Pilzpapst.

Handyfotos begutachtet Grünert ungern. „Da was zu erkennen, ist extrem schwierig, weil die Farben verfälscht sind.“ Auch von Pilzerkennungs-Apps und Internet-Seiten hält er wenig. „Diese Bilderbuch-Technik bringt nichts, die Erklärungen im Text sind einfach wichtig.“

Eine Dame mit einem großen weißen Pilz tritt an den Tisch. Als Grünert „Knollenblätterpilz“ sagt, halten die Zuschauer den Atem an – und sind baff, als er fortfährt. „Den könnten Sie essen, es ist ein sogenannter Fransiger Wülstling, in der Gattung der Knollenblätterpilze gibt es auch Speisepilze.“ Allerdings gibt es auch eine Verwechslungsgefahr mit den lebensgefährlichen Exemplaren. „Pilze zu bestimmen ist wie Kriminologie“, sagt Grünert.

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