Görlitz – Er hat das Sakko über die linke Schulter geworfen, der Schlips baumelt locker um seinen Hals. Es war ein langer Tag und Michael Kretschmer, 44, sieht aus, als könnte er jetzt ein Bier gebrauchen. Aber die Sache hier im Görlitzer Wichernhaus ist noch nicht vorbei. Neben ihm steht ein junger Mann, blondierter Scheitel, kaum 18 Jahre alt. Vorhin, als Kretschmer neben den anderen Direktkandidaten auf der Bühne saß, fragte ihn der Blonde, warum er AfD-Themen als seine eigenen ausgebe. Mehr Polizei, mehr Lehrer, so was. Er las die Frage ab, es klang, als habe er sie nicht selbst formuliert. Kretschmer antwortete ruhig, wie immer. Jetzt stehen sie da, der junge Mann schimpft, Kretschmer hört zu. Wie immer.
Seit 18 Monaten tut Sachsens CDU-Ministerpräsident kaum etwas anderes als zuzuhören, selbst dann, wenn es sinnlos erscheint. Es ist der Versuch, die Leute wieder auf seine Seite zu ziehen. Sachsen war jahrelang CDU-Land, jetzt ist es eine Hochburg der AfD.
Nächsten Sonntag wird hier gewählt, und es kann sein, dass die Partei, die im Osten als besonders rechts gilt, stärkste Kraft wird. Bei der Bundestagswahl 2017 schaffte sie das schon, wenn auch nur mit einem Promille-Vorsprung. Bei der Europawahl im Mai lag sie gut zwei Prozentpunkte vor der Union. Und um ein Haar hätte sie hier in Görlitz den Oberbürgermeister gestellt. Der AfD-Kandidat Sebastian Wippel verlor erst in der Stichwahl – weil sich alle anderen Parteien gegen ihn verbündeten.
Görlitz ist für Kretschmer eine persönliche Angelegenheit. Hier wurde er geboren. Hier trat er in die CDU ein, wurde Stadtrat, Kreisrat, Bundestagsabgeordneter. In Görlitz wurde er politisch groß – und kassierte hier auch seine derbste Niederlage: 2017 verlor er das Direktmandat an Tino Chrupalla von der AfD. Kretschmers Karriere hätte hier enden können, stattdessen wurde er Regierungschef.
Aber was, wenn er auch diesmal verliert?
Eigentlich hat Görlitz gerade gar keine Lust auf Wahlkampf. Am Wochenende ist Altstadtfest; zwischen den Gründerzeit-Fassaden, die so makellos sind, dass Hollywood hier immer wieder Filme dreht, stehen jetzt Buden mit Namen wie „Gerupfte Sau“. Trotzdem ist das Wichernhaus am Abend voll. Man will die sechs Spitzenkandidaten im Wahlkreis zumindest mal gesehen haben.
Für Kretschmer ist es einer der größeren Termine, in desem Wahlkampf ist er sich für (fast) nichts zu schade. Er düst kreuz und quer durchs Land, hört zu, diskutiert, steckt ein. Er will besonders bürgernah sein, ein regelmäßiger Termin heißt „Kretschmer grillt“. Der Ministerpräsident dreht die Würstchen und wer will, kann vorbeikommen und Frust ablassen.
All das hat sein Gutes, weil Kretschmer die Leute und das, was sie berührt, inzwischen so gut kennt wie kaum ein anderer. Aber es hat auch einen Haken. „Persönlich schlägt Kretschmer sich ganz vorzüglich“, sagt Werner Patzelt. „Aber vor 70 oder 80 Leuten zu sprechen, ist eigentlich die Arbeit von Landtagsabgeordneten. Da geht es dann eher um das örtliche Hallenbad als um die großen Themen.“ Große Landesthemen fallen unten durch.
Eine Zeit lang sah man Patzelts Lockenkopf in vielen Talkshows, obwohl manche den Eindruck hatten, er verstehe die AfD ein bisschen zu gut. Gerade deshalb ist der gebürtige Bayer heute Berater der sächsischen CDU – einer, der auch Unbequemes ausspricht. „Es geht jetzt nicht mehr darum, an die AfD verlorene Wähler zurückzugewinnen“, sagt er. Sondern darum, nicht noch mehr an die AfD zu verlieren. Grätschen aus Berlin helfen da wenig. Die letzte kam von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer selbst. Patzelt ist sich sicher: AKKs Attacke auf Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen habe zwei Prozent Unentschlossene zur AfD getrieben.
Maaßen ist an diesem Görlitzer Abend kein Thema, stattdessen: innere Sicherheit, Bildung, Arbeitsplätze. Lange hat man in Sachsen aneinander vorbeigeredet, oft auch gebrüllt. Deshalb stellen die beiden Moderatoren Fairness-Regeln auf – höflich bleiben, ausreden lassen, keine Beleidigungen. Und tatsächlich: Der Umgang ist fair, ruhig. Selbst zwischen Grünen-Kandidatin Franziska Schubert, rechts auf dem Podium, und AfD-Mann Sebastian Wippel – rechts außen.
Bis ein Mann aus dem Publikum sich meldet und einfach nicht mehr aufhört zu reden. Es geht um 2015, die Flüchtlinge, den „Kontrollverlust“. Sonst meidet Kretschmer das Thema, weil es damit nichts zu gewinnen gibt. Aber jetzt kommt er nicht drum herum: Er sagt, dass Sachsen in diesem Jahr nur 7000 Flüchtlinge aufnehmen werde, zehn Prozent so viele wie im Vorjahr. Dass 2015 lange her sei und man nach vorne denken müsse. Und dass Migration eh ein bundespolitisches Thema sei. „Wenn sie bei dieser Wahl eine politische Entscheidung treffen, um Berlin eines auszuwischen, dann tut das diesem Land nicht gut“, sagt er dann und wird ein wenig lauter. „Es geht um unsere Regierungsfähigkeit.“
Es ist eines der Probleme, mit denen Kretschmer sich rumschlägt. Er kann noch so viel zuhören, noch so gut argumentieren, noch so oft grillen – viele Leute sind wütend auf Berlin. Kretschmer sei ja ein guter Mann, hört man hier immer wieder. Aber halt in der falschen Partei.
Einem nutzt das besonders: AfD-Mann Sebastian Wippel lehnt an einem Stehtisch und nippt an einem Bier. Er ist der, der fast OB geworden wäre und jetzt keine schlechten Chancen hat, Kretschmer in dessen Wahlkreis zu schlagen. Er war Polizeikommissar, ein breitschultriger Mann mit hypnotischem Blick. „Protestwähler, ja, die gibts auch bei uns“, sagt er. „Die Leute wollen einfach Veränderung.“ 30 Jahre CDU seien genug. So steht es auch auf den Wahlplakaten, auf denen der AfD-Mann sich bürgerlich gibt. Und das im Kernland des völkisch-nationalen „Flügels“.
Kretschmer beteuert immer wieder, dass eine Koalition mit der AfD nicht infrage komme. Wippel ist da schon aufgeschlossener. „Nicht mit dem jetzigen CDU-Personal“, sagt er – aber das kann sich ändern. „Wenn die Wahl hier in Görlitz zu unseren Gunsten endet, dann wird der Ministerpräsident zum zweiten Mal seinen eigenen Wahlkreis gegen einen AfD-Mann verloren haben. Vielleicht fangen dann manche in der CDU an, umzudenken.“
Wippel verkörpert ein zweites Kretschmer-Problem: Er taugt kaum als Feindbild. Er kommt aus dem Bürger-Milieu der Stadt, inszeniert sich als seriösen Kümmerer, spart an groben Parolen. Der völkische Ost-Lautsprecher Björn Höcke ist von Görlitz aus weit weg.
„Wir stimmen ja nicht für Höcke, sondern für Wippel“, sagt Ulrike H. Die 64-Jährige ist Görlitzerin und nennt den AfD-Kandidaten „grundsolide“. Früher hat sie SPD gewählt, meistens. „Aber ich schiebe meine Grundüberzeugungen diesmal zur Seite. Es gibt viele, die das tun.“
Sie stimmt für einen AfD-Mann, gegen jede Bedenken. Er spreche die Probleme der Region an, sagt sie und erzählt von den polnischen Nachbarn, die angeblich nur hierher kämen, um Sozialhilfe zu kassieren. Von niedrigen Löhnen und vom Ausbluten der Stadt. Görlitz ist hübsch zurechtgemacht, aber wer die Altstadt verlässt, kommt an vielen verlassenen Läden und vernagelten Fenstern vorbei. Auf dem sächsischen Land sind die Probleme überall gleich.
Kretschmer kämpft gegen die AfD und Berlin, gegen die Versäumnisse der vergangenen Jahre und den Vertrauensverlust. „Ich kenne den Kretschmer, seit er ein Kind ist“, sagt ein älterer Herr, der bisher immer CDU wählte. „Guter Mann, aber hier muss sich was ändern.“
Wie gefährlich kann Kretschmer all das werden? Die meisten Beobachter glauben, dass er Regierungschef bleibt, aber er wird zwei Koalitionspartner brauchen, Minimum. Die SPD. Und womöglich auch die „Verbotspartei“ (Kretschmer)?
Als der Abend fast vorbei ist, spielen sie im Wichernhaus Koalitionsbingo. Die Direktkandidaten sollen sich zu verschiedenen Varianten äußern, etwa hierzu: „Eine Koalition mit den Grünen wäre durchaus möglich.“ Kretschmer überlegt nicht lange – er enthält sich. Zu diesem Zeitpunkt ist das die größtmögliche Annäherung.