Mossul – eine tote Stadt will leben

von Redaktion

Eineinhalb Jahre ist es her, dass die IS-Hochburg Mossul im Nordirak befreit wurde. Ein Sieg über den Terror, der nur Verlierer zurückließ: bis zu 40 000 Todesopfer, zehn Millionen Tonnen Schutt, eine einst tolerante Stadt in Trümmern. Wir haben die Kinder von Mossul und ihre Familien besucht.

VON DORIT CASPARY

Mossul – Nach wie vor ist Mossul ein Hochrisikogebiet. Auch wenn seit Juli 2017 dort offiziell die Waffen schweigen und der IS als besiegt gilt. Wie viele Anhänger sich noch immer versteckt halten, weiß keiner. UN-Schätzungen gehen von 30 000 IS-Kämpfern aus. Ein Grund, warum wir nicht länger als 30 Minuten an einem Ort in der Stadt bleiben dürfen – so lange brauchen die Terroristen, um einen Anschlag vorzubereiten.

Trotz unzähliger Checkpoints in und um Mossul, trotz Geheimdiensten und Polizei, kommt es fast täglich zu Anschlägen. Anfang November tötete eine Autobombe neun Menschen. Und erst jetzt wurde ein Anschlag auf elf Kinder verübt, die auf dem Weg zur Unicef-Schule waren. Vier starben, die anderen sind schwer verletzt. „Jeden Tag wird jemand getötet, weil er die falsche Meinung vertritt, der falschen Religion angehört oder nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist“, sagt ein Regierungsbeamter.

Vor dem Krieg war die Stadt mit ihren Ölfeldern bekannt für die beste Uni des Landes, für historisch bedeutende Kulturstätten und ein friedliches Mit- oder zumindest Nebeneinander von Arabern und Kurden, Jesiden und Christen, Sunniten und Schiiten. Dann kam der IS. 2013 änderte sich das Klima. Plötzlich wehten schwarze Flaggen auf den Dächern. Bis am 4. Juli 2014 das Kalifat, der islamische Staat, in der Stadt ausgerufen wurde, genau gegenüber der berühmten Al-Nuri-Moschee. An diesem Tag starb Mossul.

Von der Moschee ragt nur noch die grüne Kuppel wie ein Mahnmal in den Himmel. In den Straßen türmen sich Schuttberge zwischen eingestürzten Häusern, ausgebrannten Autos und Müll. Eine Fahrt durch Staub, Dreck, Zerstörung. Apokalypse.

Erst ein Bruchteil von Mossul ist bislang frei von Minen und Sprengkörpern, die noch nicht explodiert sind. Die Freigabe durch UN-Experten ist Voraussetzung, dass Familien überhaupt in ihre Häuser zurückkehren können. Es fehlt an allem. An Wasser. Und Schulen.

Unicef kümmert sich vor allem um die Wasserversorgung und die Wiedereröffnung von Schulen. „Der regelmäßige Unterricht ist extrem wichtig. Damit die Kinder eine Struktur haben und wir in ein paar Jahren nicht eine ganze Generation verloren haben“, erklärt Bildungsexperte Muhannad Al Issa. Bei jedem Besuch in Mossul trifft er Kinder und Mütter, hört ihre Geschichten. „Eine ist furchtbarer als die andere. Solche Schicksale kann man sich gar nicht vorstellen.“

So wie das von Iham (siehe unten) oder auch das Schicksal von Noors Familie. Elf Jahre alt ist das Mädchen, flüstert kaum hörbar. Zu viel Leid hat das Mädchen erlebt. Viele Bewohner machten sich 2014 sofort auf die Flucht. Andere wollten zunächst nicht glauben, was da passierte. Dass Nachbarn die Hände abgeschlagen wurden, weil sie angeblich gestohlen hatten. Als die ersten Satellitenschüsseln und mobilen Geräte einkassiert wurden, war klar, der IS schneidet Mossul von jeglichem Leben außerhalb der Stadt ab. Noors Familie blieb. Zunächst. Weil der Vater eine gute Arbeit bei der staatlichen Ölgesellschaft hatte. Seine Frau Suad stockt, sie vergräbt ihr Gesicht in ihren rauen Händen, schluchzt leise.

Bis 2014 ging Noor in die Schule, war fleißig und las für ihr Leben gerne. Dann änderte sich auch für sie alles. In ihrer Schule wurden die normalen Fächer gestrichen und durch die Koranschule ersetzt. Mama Suad nahm ihre Kinder aus dem Unterricht und ließ sie nicht mehr aus dem Haus. „Auf den Straßen verschwanden immer häufiger Kinder. Ich habe jeden Tag solche Angst um meine Kinder gehabt. Wir lebten in unserem Zuhause wie im Gefängnis. Fast drei Jahre lang.“

Einkaufen durften nur alte Frauen und Männer. Die Mütter versuchten, ihre Kinder selbst zu unterrichten und unter der Hand an Schulmaterial zu kommen. Als der IS auch Kinder aus den Häusern holte und umbrachte, beschloss die Familie zu flüchten. Um sie herum tobten die brutalsten Häuserkämpfe seit dem Zweiten Weltkrieg. Jeden Tag, jede Nacht Angriffe, Bomben, Gefechte.

Noors Familie flüchtete am 15. April 2017. Es war 17 Uhr, als sie sich bereits bei Nachbarn versteckt hielten. Vater Mahmoud wollte noch einmal zurück in sein Haus, um Decken zu holen. Vor ihm standen fünf Männer. Schwarz gekleidet mit Maschinengewehren und Handgranaten. Suad hörte die Schreie. „Der schlimmste Moment in meinem Leben.“ Es waren die Todesschreie ihres Mannes und ihrer drei Söhne. Sekunden später ein ohrenbetäubender Knall. In das Haus der Familie schlug eine Bombe ein. „Meine Lieben wurden dann auch noch unter den Trümmern begraben.“ Suad stockt, vergräbt ihr Gesicht wieder in den Händen.

Wie die Mutter mit ihren vier Töchtern seitdem überlebt, kann sie nicht genau sagen. Manche Tage verbringt sie wie in Trance. Nur für ihre Kinder bewältigt sie den Alltag. Die Familie lebt inzwischen beim Schwiegervater. Dessen Haus ist im Krieg nicht zerstört worden. Die kleine Rente des Familienoberhauptes muss für alle Mitglieder reichen, die derzeit in dem Haus wohnen: 16 Frauen und Kinder. „Manchmal ist es schwierig, überhaupt an Lebensmittel zu kommen“, erzählt Suad.

Aber es gibt einen kleinen Lichtblick. Seit Anfang Oktober kann Noor endlich wieder in eine Schule gehen. Unicef hat das Gebäude instand gesetzt, mit Mobiliar ausgestattet und die Kinder mit Büchern, Heften und Materialien versorgt. Ein Schritt zurück in ein Leben, das den Kindern ein kleines Stück Normalität gibt. „Für mich sind die Tage, an denen Schule ist, die schönsten in der ganzen Woche“, sagt die Elfjährige plötzlich mit einem Lächeln im Gesicht.

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