München – Oft kommen Politiker und ihre Pressesprecher mit wilden Forderungen zum Interview. Dieses und jenes müsse man doch unbedingt fragen, anderes aber bitte eher nicht, Fotos keinesfalls von links unten, und der Zeitrahmen sei maximal 20 Minuten. Horst Seehofer übermittelt vorab einen Wunsch: Ob er zum Interview im Pressehaus eine Weißwurscht bekommen könne, in Berlin gibt es die kaum? Ja, das geht. Und sonst hat der Bundesinnenminister keine Sonderwünsche, aber zwei Stunden Zeit, um über die Themen des Tages zu sprechen: Migrationspolitik; und sein nahender Abschied als CSU-Vorsitzender. Seehofer sagt offen, dass er gern länger Parteichef geblieben wäre. Aber verrät leider auch uns nicht, wie lange er Innenminister in Merkels Kabinett sein will.
Sie fahren diese Woche nicht zum CDU-Parteitag. Was würden Sie Frau Merkel eigentlich gerne zum Abschied sagen?
(denkt nach) Ich würde auch gefühlsbetont auf diese 13 sehr erfolgreichen gemeinsamen Jahre blicken. Ich war ab 2005 Landwirtschaftsminister in ihrem Kabinett, dann fast zehn Jahre Ministerpräsident, bin jetzt wieder in ihrem Kabinett.
Sie klingen fast ein bisschen wehmütig.
Es waren bewegte Jahre. Denken Sie an die Finanzkrise, die Weltwirtschaftskrise, die Flüchtlingskrise.
Ein bisschen werden Sie sich noch an ihr erfreuen dürfen. Sie bleibt ja noch Ihre Kanzlerin.
Ja. Erfreuen ist der richtige Begriff.
Gibt es rückblickend etwas, das Sie bereuen? Etwa die legendäre Parteitagsrede 2015?
Ich betrachte im Rückblick nicht einzelne Momente – ob so oder so. Zumindest jetzt noch nicht.
Im Moment erleben wir eine ungewöhnliche Lage: Die CSU vertritt eine sehr leise Linie in der Asylpolitik, die CDU redet aber über nichts anderes.
Wissen Sie, es ist schon interessant: Uns wurde immer vorgeworfen, wenn wir nicht über dieses Thema reden würden, dann würden sich die Menschen auch nicht darüber aufregen. Jetzt äußere ich mich seit vielen Wochen sehr zurückhaltend zur Migrationsthematik, mache meine Arbeit. In der CDU hingegen wird im Rahmen des Wettbewerbs um den Vorsitz ständig darüber gesprochen. Das zeigt, dass das Thema die Menschen wohl doch interessiert.
Ausgerechnet Markus Söder rät doch gerade, weniger über Asyl zu reden. Verstehen Sie, dass konservative Wähler davon irritiert sind?
Ich mische mich seit März in die bayerische Politik mit keinem einzigen Satz ein. Dabei bleibt es auch. Dieser Dualismus hat sich sehr bewährt. Ich kann für mich sagen: Mein Kurs in der Migrationspolitik mit den drei Pfeilern Humanität, Begrenzung, Steuerung hat sich keinen Millimeter geändert.
Doch. Sie schließen Abschiebungen nach Syrien kategorisch aus. Ein neuer, sanfter Seehofer?
Eine begründete Entscheidung bedeutet längst keinen Kurswechsel. Das Auswärtige Amt hat die Lage in Syrien analysiert. Ergebnis: Derzeit kann man dorthin niemanden abschieben. Falls wir das willkürlich doch täten, würde uns das erstbeste Gericht sofort korrigieren. Wir leben in einem Rechtsstaat.
Sie forderten Zurückweisungen an den Grenzen. Jetzt spricht Annegret Kramp-Karrenbauer von einem „intelligenten Grenzregime“. Fühlen Sie sich bestätigt?
Ja, gleich doppelt. Der Begriff „intelligentes Grenzregime“ stammt von mir. Das heißt: Schleierfahndung bis 30 Kilometer hinter der Grenze, dazu anlassbezogen, temporär überall an den Grenzen Kontrollen. Das gilt, solange die beste Lösung – die Außengrenzen der EU wirksam zu kontrollieren – nicht klappt.
Was hat denn der große EU-Gipfel Mitte 2018 nun bewirkt? Und wo sind Ihre bilateralen Rückführungs-Verträge?
Mit ein paar Ländern gibt es diese Verträge. Mit Italien, dem wichtigsten Land, nicht – er ist ausgehandelt, die dortige Regierung unterschreibt aber bisher nicht.
Wird es doch noch die Zurückweisungen an deutschen Grenzen brauchen?
Wir sind mit unseren Maßnahmen durchaus erfolgreich. Die Obergrenze von rund 200 000 Migranten erreichen wir in diesem Jahr bei Weitem nicht, auch nicht den Korridor von 180 000 aus dem Koalitionsvertrag.
Die Zahlen sinken. Die Bevölkerung sorgt sich dennoch über eine hohe Zahl von schweren Straftaten. Stehen Sie hinter dem Punktesystem, das Intensivtäter bewerten soll?
Wir haben eine klare Grundhaltung: null Toleranz für Straftäter. Sie müssen mit aller Härte des Rechtsstaats zur Verantwortung gezogen werden, anschließend auch unnachgiebig außer Landes gebracht werden. Der Staat muss Zähne zeigen. Viele dieser Täter haben kriminelle Karrieren hinter sich. Deshalb bin ich dafür, dass wir – wie im Umgang mit Gefährdern – die Erkenntnisse unserer Sicherheitsbehörden zusammenführen. Ein Punktesystem – neun Punkte: dableiben, zehn Punkte: abschieben – würde ich da nicht unbedingt favorisieren.
Wie soll sich Bayern an den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer erinnern?
Ich stelle da keine Ansprüche. Ich wäre schon froh, wenn in Erinnerung bliebe, dass ich Bayern als blühendes Land hinterlassen habe und die CSU als bärenstarke Partei. Beides hat ja auch in anderen Ländern viel Neid ausgelöst. Mir war es immer wichtig, Politik auch für die kleinen Leute zu machen. Ich denke, ich habe das mir übergebene Erbe nicht nur verwaltet. Und ich habe die CSU übernommen, als sie am Boden lag, 2008 die Landtagswahl dramatisch verloren hatte.
Mit Verlaub: Sie übergeben eine CSU, die gerade eine Landtagswahl noch dramatischer verloren hat.
Wenn ich die Entwicklung vieler Parteien in Europa ansehe, kann ich sagen: Die CSU ist auf diesem Kontinent weiterhin eine einzigartige Partei. Wir stellen seit über 60 Jahren den Ministerpräsidenten. Zweimal haben wir in Bayern die absolute Mehrheit nicht erreicht: 2008, als die Freien Wähler neu hinzukamen, und 2018, als in der Folge der Flüchtlingspolitik die AfD in den Landtag eingezogen ist. Die Ursache dafür liegt in Berlin. Die Lage hat sich verändert: Jetzt wären 40 Prozent plus X ein großer Erfolg.
Also nie mehr absolute Mehrheiten?
Wenn Sie 40 deutlich überschreiten, ist eine absolute Mehrheit der Mandate möglich. Das ist bei fünf, sechs Parteien in einem Parlament natürlich schwierig.
Sie haben in Bayern versucht, Frauen zu fördern, haben der Partei eine Quote verordnet. Kaum kehren Sie München den Rücken, wählt die CSU, etwa in der Fraktion, wieder fast nur Männer in Ämter. Enttäuscht Sie das?
Ich habe an der Seite der Frauen-Union massiv für eine Quote gekämpft. Da hat sich einiges bewegt. Wie wir jetzt sehen, aber noch nicht genug.
Gleichzeitig schwächelt die CSU in ihrem einstigen Kraftzentrum Oberbayern. Was muss sich da ändern?
Wir erleben da Umbrüche. In Oberbayern hat die CSU etwa doppelt so stark verloren wie in den fränkischen Verbänden. Das kann niemand anders lösen als die Oberbayern-CSU selbst. Die Menschen müssen wieder stärker das Gefühl haben, dass der größte Verband der CSU eine Einheit ist und zusammenhält.
Jetzt wird schon wieder Söder Ihr Nachfolger. Hätten Sie sich gewünscht, dass jemand anderes sich aus der Deckung wagt?
Politik ist kein Wunschkonzert. Ich glaube, dass wir eine gute Lösung gefunden haben. Was mich betrifft: Auch eine schöne Zeit geht mal zu Ende. Ich blicke zufrieden zurück.
Ganz freiwillig räumen Sie den Posten ja nicht. Die CSU macht an Ihnen die schlechten Wahlergebnisse fest.
Das war schon nach der Bundestagswahl so – ich war nicht Spitzenkandidat und wurde trotzdem allein für das Ergebnis verantwortlich gemacht. Das ist so in der Politik – das muss man akzeptieren. Ich werde im nächsten Jahr 70. In meinem Lebensalter sind Angstzustände um einen Job vorbei. Deshalb mache ich den Weg für die Erneuerung frei. Dann liegen Ämter und Verantwortung wieder in den gleichen Händen.
Ist es ein bisschen tröstlich, dass der CSU-Vorsitzende sechs Wochen länger im Amt bleiben wird als die CDU-Vorsitzende…?
(lacht) Das war nicht mein Ziel. Auch wenn Sie das vermuten: Angela Merkels Abschied erfüllt mich nicht mit Freude.
Führen wir heute das Abschiedsinterview mit dem CSU-Vorsitzenden?
Ja.
Wann sollten wir das Abschiedsinterview mit dem Innenminister Seehofer ansetzen?
Ach. Da besteht jetzt gar kein Erklärungsbedarf.
Wir können uns nicht vorstellen, dass Sie als Innenminister Däumchen drehen, während CSU-Chef Söder im Koalitionsausschuss die großen Fragen verhandelt…
Genau das ist dann seine Funktion. Ich bin ab dem Parteitag, 19. Januar, vormittags, nicht mehr zuständig, weiß aber, dass die Ressortminister in wichtigen Fragen beigezogen werden. So habe ich das ein Jahrzehnt lang als Parteivorsitzender gehalten.
Stimmt es, dass Sie es niemals ohne Politik aushalten würden?
Nein. Ich bin wohl der Politiker mit den meisten lebenden Vorgängern. Waigel, Huber, Stoiber – alle haben gerne auch mal öffentlich Ratschläge gegeben. Ich habe mir fest vorgenommen, das anders zu machen. Wenn ich mal ganz ausgeschieden bin aus der Politik, dann können Sie sich drauf verlassen, dass ich ein vollständig anderes Leben führen werde.
Interview: Georg Anastasiadis, Mike Schier, Chr. Deutschländer