München – An einem Freitag im August brechen fast alle Dämme. Schon im Plenum kracht es zwischen der AfD und den anderen Parteien. Später, in der Lobby des rheinland-pfälzischen Landtags, stehen sich SPD-Fraktionschef Alexander Schweitzer und sein AfD-Pendant Uwe Junge gegenüber und brüllen sich an. Sie gehen sich „fast an die Gurgel“, schreibt ein Journalist. Als Junge geht, ruft Schweitzer ihm nach: „Der geordnete Rückzug des Offiziers.“
Dazu muss man wissen, dass Uwe Junge, ein Mann mit gewaltigem Schnauzbart, lange bei der Bundeswehr war. Seit 2016 sitzt er im Landtag und spricht besonders gerne über ein Themenfeld: Asyl, Migration, innere Sicherheit. Auch an jenem Freitag geht es darum. Noch während der Debatte postet ein AfD-Mitarbeiter ein Foto von Integrationsministerin Anne Spiegel (Grüne) bei Twitter, auf dem sie aussieht, als sei sie blutverschmiert. Ein Tabubruch. Noch einer.
Es ist nicht so, dass sie sich in Mainz ständig so heftig befehden. Die Lobby-Szene sei auch eher eine Ausnahme gewesen, sagt Schweitzer am Telefon. „Da lag keine Gewalt in der Luft.“ Aber seit Junge und seine zwölf Kollegen im Landtag sitzen, hat sich einiges geändert. Der Ton ist rauer, die Nerven angespannter, das Parlament ein anderes. Ähnliches könnte auf Bayern zukommen. Die AfD steht vor dem Einzug ins Maximilianeum, wo man sich mit einigem Bammel fragt: Wie wird der Einzug der Wütenden das Parlament verändern?
Hendrik Hering (SPD) sitzt – mit einer Unterbrechung – seit 1996 im rheinland-pfälzischen Landtag. Er war Wirtschaftsminister und Fraktionschef seiner Partei. Seit 2016 achtet er als Parlamentspräsident darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Manchmal, sagt er, sei er besonders froh um dieses Amt – „weil ich mich nicht dabei erwischen muss, aus der Haut zu fahren“.
Es gibt einen Landtag vor und einen nach der AfD. In dem davor wurde auch heftig gestritten, vor allem zwischen CDU und SPD. Aber man wahrte eine gewisse Anstands-Grenze. Inzwischen ist das anders, es herrscht ein neues Klima. Hering musste bisher drei Ordnungsrufe erteilen, so viele wie seit der Wahlperiode 1987-1991 nicht. Alle betrafen AfD-Abgeordnete. Auch die Zahl der Rügen, mit denen „unparlamentarische Äußerungen“ geahndet werden, ist rekordverdächtig. 19 sind es, viele gingen auch an SPD- oder Grünen-Politiker.
„Die Debatten sind aggressiver geworden“, sagt SPD-Fraktionschef Schweitzer. Aber nicht besser. Die AfD versuche, jede Diskussion auf ihr Lieblingsthema Migration herunterzubrechen. Es gebe Zwischenruf-Kaskaden und subtile Drohungen. „Es heißt dann sinngemäß: ‚Wartet nur ab, was euch blüht, wenn wir die Mehrheit haben‘.“
Die rot-gelb-grüne Landesregierung will lieber gegenhalten – und hat sich dazu ein paar Regeln gegeben. Sie will sich von der AfD keine Themen diktieren lassen, sondern eigene setzen. Standpunkte entschieden vertreten, aber sich keiner Diskussion verschließen. Vor allem: Der AfD gegenüber fair bleiben, um ihr die Opferrolle zu nehmen – auch wenn ein Vorstoß noch so wunderlich ist. Kürzlich stellte die AfD etwa den Antrag, Schüler morgens zum Fahnenappell antreten zu lassen. In der Koalition hielt man das für ziemlichen Unsinn, aber antwortete trotzdem. Wenn auch nur mit einem statt der möglichen drei Redner.
„Die AfD ist ein lernendes System“, sagt Parlamentspräsident Hering. „Sie überlegt sich genau, wann sie welche Themen setzt.“ Und natürlich auch, zu welchem Zweck.
Das merken auch die Parlamentarier im Bundestag, zum Beispiel Alexander Radwan (CSU). „Die AfD arbeitet mit perfiden Anträgen, deren völkisches und nationalistisches Gedankengut erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar wird“, sagt er. Etwa im Frühjahr, bei der Debatte über den Straftatbestand Volksverhetzung. AfD-Mann Jens Maier forderte damals, auch Volksverhetzung gegen Deutsche ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Was harmlos klingt, hält Radwan für extrem bedenklich. „Das Ziel dieses Paragrafen ist es, Minderheiten gegen Mehrheiten zu schützen“, sagt er – nicht umgekehrt. Die AfD versuche so, den Fokus zu verschieben nach dem Motto: „Gewalt und Hass gegen Minderheiten wie Dunkelhäutige, andere Religionen oder Homosexuelle sind eigentlich gar kein Problem.“
Natürlich gibt es Wutreden gegen die Kanzlerin, böse Zwischenrufe oder Aktionen wie die von Mitte September, als die AfD-Fraktion während einer Rede von Johannes Kahrs (SPD) geschlossen den Saal verließ. Was aber wirklich nervt, sagt Konstantin Kuhle (FDP), sind die dezenteren Aktionen: Dass die AfD regelmäßig die Tagesordnung infrage stellt, um den Ablauf zu stören: „Nicht verboten, aber absolut unüblich.“ Oder auch die vielen Respektlosigkeiten: Lässt die Rednerin einer anderen Partei eine Zwischenfrage der AfD nicht zu, fangen deren Abgeordnete an zu gackern. „Natürlich soll es im Bundestag zur Sache gehen“, sagt Kuhle. „Aber das geht über das normale Maß hinaus.“
In der AfD finden sie das halb so schlimm. „Wir machen ja keinen Radau“, sagt der Bundestagsabgeordnete Petr Bystron. „Wir sorgen dafür, dass Leben in die Bude kommt.“ Die Sache mit der Tagesordnung? Ach, sagt Bystron, auch die anderen tricksen. Das Gegacker? Müsse man nicht überbewerten. Überhaupt findet er, dass sich die Situation normalisiert – „vor allem die Zusammenarbeit in den Ausschüssen“.
Läuft es am Ende darauf hinaus – Normalisierung?
Im Landtag in Mainz sehen sie das anders. Die AfD versucht zwar nach wie vor, bürgerlich-konservativ zu erscheinen – aber radikale Tendenzen kann sie kaum verbergen. Zuletzt blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Abgeordneten Jens Ahnemüller wegen NPD-Kontakten aus der Fraktion auszuschließen. Und Fraktionschef Junge fiel vor allem durch sein Erscheinen in Chemnitz auf – Seit’ an Seit’ mit AfD-Rechtsaußen Björn Höcke und Rechtsradikalen.
Es heißt oft, die AfD entwaffne sich schon selbst, wenn sie erst mal im Parlament sitze. Glaubt man SPD-Mann Schweitzer, stimmt das Gegenteil: „Seit dem Einzug in den Landtag ist die AfD noch radikaler geworden.“
Die Zahl der Rügen ist so hoch wie lange nicht mehr