Missbrauch: Jesuitenpater fordert schonungslose Transparenz

„Ross und Reiter nennen!“

von Redaktion

Der dunkle Schatten des sexuellen Missbrauchs holt die katholische Kirche mit aller Wucht erneut ein. In Fulda werden sich die deutschen Bischöfe ab heute mit einer Studie über das Ausmaß des Missbrauchs befassen müssen. Papst Franziskus wird von Kritikern vorgeworfen, Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Der Jesuit Andreas Batlogg (56), früherer Chefredakteur der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ und Autor des Buches „Der evangelische Papst – hält Franziskus, was er verspricht?“, drängt im Interview auf Reformen in der Kirche. Nur so könne sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

-Seit fünf Jahren lenkt Papst Franziskus die Geschicke der Kirche. Ein Jesuit wie Sie. Als Reformpapst hat er große Erwartungen geweckt. Hält er, was er verspricht?

Ich glaub’ schon, auch wenn es im Moment nicht gut für die Kirche ausschaut, auch nicht für Papst Franziskus. Aber er ist angetreten als Reformpapst, er wurde als solcher gewählt. Wenn man einen langen Atem hat, sind fünf Jahre nichts. Es zeigt sich in den fünf Jahren, dass es starke Widerstände im Apparat gibt. Dieser Papst ist keiner, der zuerst an Strukturen denkt. Er könnte, wenn er wollte, über Nacht den Zölibat abschaffen. Aber ihm geht es zunächst um die Reform der Herzen, der Mentalitäten, der Einstellungen. Jetzt zeigt sich: da gibt es Widerstand auf allen Ebenen. Er kann nicht von heute auf morgen die Kurie, den Apparat, das ganze Personal, 4000 Bischöfe schlagartig auswechseln. Das erklärt die vielen Probleme, die wir zur Zeit haben.

-Dem Papst wird sogar Vertuschung von Missbrauchsfällen vorgeworfen. Er schweigt. Ist das die richtige Strategie?

Das ist die Frage. Er hat auch geschwiegen, als direkt nach seiner Wahl 2013 Vorwürfe aufkamen, er habe kollaboriert mit der argentinischen Militärregierung. Später wurde bekannt, dass Pater Bergoglio (jetzt Papst Franziskus/Anmerkung d. Redaktion) als einfacher Jesuit ein Fluchtsystem in andere Staaten entwickelt hat. Er hat sich nie verteidigt. Wie es jetzt ist, mit diesen Missbrauchsfällen, weiß ich nicht. Ich denke, er hat auch Fehler gemacht – es holen ihn jetzt Versäumnisse aus der Vergangenheit ein. Stimmungsmäßig muss man aber trotzdem sagen, dass die Wahl Bergoglios gezeigt hat: Es gibt Bewegung in dieser verkrusteten Kirche. Im Stil hat sich ja viel getan. Es ist völlig anders als bei Papst Benedikt – und das haben alle genossen. Aber jetzt kommen die Nostalgiker wieder.

-Wie bewerten Sie das Erscheinungsbild der Kirche im Moment?

Mich macht betroffen, dass Mütter zum Beispiel in Amerika zweifeln, ob sie ihren Sohn noch in ein Priesterseminar gehen lassen können, wenn sie damit rechnen müssen, dass sich ein Bischof an ihnen vergreift. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, aber wir sind eine Kirche von Heiligen und Sündern. Das wird uns vermutlich noch lange beschäftigen. Schade ist halt, dass fast nichts mehr durchkommt: Es gibt auch heilsame Erfahrungen in der Kirche. Und über die wird im Moment kaum gesprochen.

-Welches Signal wünschen Sie sich von den deutschen Bischöfen in dieser Woche?

Das vorbehaltlose Eingeständnis: Hier wurden schwere Fehler gemacht, es wurde systematisch vertuscht. Ich wünsche mir Betroffenheit, eine Entschuldigung und dass dann eben wirksam gezeigt wird: Wir setzen diese und jene Hebel in Bewegung, damit so etwas nicht mehr passieren kann. Die Kirche darf sich nicht selbst kontrollieren. Es muss externe Evaluation und externe Mechanismen geben.

-Bei der Studie hatten aber die Forscher keinen unmittelbaren Zugang zu den Archiven. Eine zuvor geplante Studie ist gescheitert, weil der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer aus Hannover eine Zensur der Bischöfe nicht akzeptieren wollte.

Archive öffnen! Alles, was vertuscht und unter den Tisch gekehrt wird, kommt irgendwann ans Tageslicht. Ross und Reiter nennen! Wenn es falsch war, muss es auch als solches deklariert werden. Schutzbefohlene müssen geschützt werden! Wir müssen sehen, dass wir reife, charakterstarke Priester in der Kirche haben. Jede Imagekampagne nützt überhaupt nichts, wenn wir nicht ehrlich, transparent, aber auch demütig und bescheiden sind. Und zwar nicht aus taktischen Gründen. Das wird ein langer, langer Prozess.

-Was muss die Kirche tun?

Radikale Offenheit, schonungslose Transparenz, Abrüsten in diesen ganzen Machtansprüchen. Auch in den Ansprüchen einer moralischen Geltungssucht, die manchmal sogar paranoide Züge hat. Natürlich, wenn alles in der Welt unsicher wird, sehnen sich Menschen nach stabilen Faktoren. Mit Freiheit verantwortlich zu leben, das ist viel schwerer.

-Viele in der Kirche wollen diese Freiheit auch gar nicht.

Franziskus ist 81. Viele, die massiv gegen ihn sind, werden sagen: „Das sitzen wir aus. Danach wählen wir wieder einen, der die Kirche in die andere Richtung führt.“ Das geht aber nur um den Preis des absoluten Verlustes jeder Art von Glaubwürdigkeit. Ich bin nach wie vor erstaunt über das Tempo, das der Papst mit seinen Reformen an den Tag legt.

-Trotzdem wartet man doch auf die wirklich durchschlagenden Reformen – wie die Freigabe des Zölibats oder Weihe von verheirateten Männern.

Schauen Sie: Der Kardinalsrat, den Franziskus installiert hat, tagt drei, vier Mal im Jahr. Offenbar geht das alles nicht so schnell. Aber wenn man sieht, welche Kongregationen verändert wurden, welche Räte zusammengelegt wurden: Franziskus stößt Dinge an und glaubt, es läuft dann weiter. Ich befürchte aber, dafür gibt es noch zu wenige loyale Mitarbeiter, die in diesem Geist weitermachen. Der Papst ist ein geistlicher Erneuerer, der jetzt ganz hart mit Strukturen kämpft, die an allen Ecken und Enden brechen. Mir tut er leid. Man kann nur beten, dass er durchhält. Dass er nicht resigniert und trotz allem so optimistisch ausschaut, hängt mit seiner Spiritualität zusammen. Was ich von diesem Papst lerne, ist, seinen Optimismus nicht zu verlieren. Jede geistliche Arroganz, Überheblichkeit, jedes Klassendenken muss vorbei sein. Machtstreben hat in der Kirche keinen Platz. Eine um sich selber kreisende, sich selber zelebrierende Kirche, die sich aus Frust abschottet, hat keine Zukunft. Der Papst geht zu den Peripherien, zu den Obdachlosen, den Schwulen. Er redet manchmal lieber mit Atheisten und Agnostikern statt mit theologisch verbohrten Gläubigen. Es überrascht mich, dass ein so alter Mann so offen sein kann. Das bringt die Kirche weiter. Die Abschaffung oder Freistellung des Zölibats allein löst noch nicht alle Probleme. Das ist ein langer Prozess.

-Was zeichnet das Pontifikat aus?

Franziskus betont sehr die Synodalität. Er traut und mutet Bischöfen auf lokaler Ebene Entscheidungen zu. Aber wie schwierig das ist, hat man in diesem Jahr gesehen, als die Mehrheit der deutschen Bischöfe dafür war, konfessionsverschiedenen Ehepaaren die gemeinsame Teilnahme an der Kommunion zu ermöglichen.

-… und sieben Bischöfe treten Kardinal Marx vors Schienbein, indem sie sich mit ihrem Protest an den Papst wenden.

Ich fand das unmöglich, dass sich fast alle bayerischen Bischöfe – bis auf den Speyrer und Würzburger – gegen Kardinal Marx gestellt haben. Die Bedenkenträger, die immer die wahre Lehre und die Einheit beschwören, haben für mich vorgeschobene Gründe. Der Papst will mit seinem Pragmatismus unbelehrbaren Dogmatikern zeigen: „Wir treten seit Jahrzehnten auf der Stelle.“ Die Frage ist doch: Helfen wir als Kirche oder behindern wir Leben? Der Papst benutzt die starke Metapher der verbeulten und beschmutzten Kirche. Die Kirche der wahrhaft Reinen, die in Spitzenkleidern herumstolzieren, das ist eine Kirche der kleinen Herde. Ich habe aber auch Respekt vor Weihnachts- und Osterchristen. Wenn man das Erscheinungsbild der Kirche derzeit ansieht – gerade auch mit dem Missbrauch –, kann ich schon verstehen, dass sich Menschen mit Grausen, Entsetzen, Wut und Scham abwenden. Wenn man als Priester mit Missbrauchsopfern konfrontiert wird, würde man am liebsten im Boden versinken. Trotzdem ist es meine Kirche.

Interview: Claudia Möllers

Das Buch

Der evangelische Papst – Hält Franziskus, was er verspricht?

Von Andreas R. Batlogg SJ, 304 S., 20 Euro, Verlag Kösel, 2018

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