Ritterschauspiele in Kiefersfelden

Ritter aus Leidenschaft – seit 400 Jahren

von Redaktion

Von Katrin Hildebrand (TexT) und Stefan Rossmann (Fotos)

Kiefersfelden – Jubiläumsjahr. Jubeljahr. Der 400. Geburtstag der Ritterschauspiele Kiefersfelden hätte so heiter werden sollen. Das wohl älteste Dorftheater Deutschlands begann seine Jubiläumsfeierlichkeiten bereits im Mai, weit vor Beginn des eigentlichen Geschehens im Sommer, mit einem Festakt. Damals wurden am Rathausplatz zwei kunstvoll gestaltete Bronzeritter enthüllt. Ministerpräsident Markus Söder und die Landtagspräsidentin Barbara Stamm schauten persönlich vorbei und trugen sich ins Goldene Buch ein. Söder stiftete ein Fass Bier und gab sich volksnah.

Anfang Juli wurde die Vorfreude auf die Spiele jäh unterbrochen. Mitten in der Probenzeit ist ihr Kasperl gestorben. Der Kieferer Kasperl. Andreas Gruber, 61, hat das Volkstheater Ritterschauspiele seit 2004 geleitet, war zugleich Innovator, Vordenker, Regisseur sowie Geist und Seele der Traditionsveranstaltung. Sein Tod kam plötzlich.

Rudolf Erhard, früher beim Bayerischen Rundfunk und heute, quasi im Ruhestand, persönlicher Hausjournalist und Festschriftautor der Ritterschauspiele, kann es noch immer nicht fassen. Wenige Stunden vor dem Tod des Spielleiters hatte er noch mit ihm telefoniert. „Ich begrüßte ihn mit den Worten: Denk ich an die Ritterschauspiele in der Nacht, werde ich um den Schlaf gebracht“, erzählt er. Gegen Mittag fühlte sich Andreas Gruber plötzlich ein bisschen schwach und legte sich hin. Er ist nie wieder aufgewacht.

Das große Schauspiel soll dennoch stattfinden. Er hätte es so gewollt. Das beschloss ein Ausschuss der Theatergesellschaft wenige Stunden nach seinem Tod: „Wir führen seine Arbeit weiter, alles andere würde er nicht verstehen.“ Die Leitung der Ritterschauspiele haben nun zwei Vorstände der Theatergesellschaft kommissarisch übernommen.

Noch zu Lebzeiten sagte Gruber: „Es wär besser, wenn mein Name ned auftaucht.“ Er war der berühmte Kasperl, aber er wollte sich nicht in den Vordergrund drängen. Diese Zurückhaltung und Bescheidenheit hat bei den Ritterschauspielen Tradition. Hier geht es nicht um die Leistung des einzelnen. Vielmehr steht die Gemeinschaft im Mittelpunkt. Selbst im Programmheft sind nie die Namen der Darsteller, nur die der einzelnen Rollen notiert.

Kiefersfelden hat 6800 Einwohner. 120 machen alljährlich beim Schauspiel mit. Davon stehen 50 bis 60 auf der Bühne. Neben den Titelrollen tummeln sich Räuberbanden, Gaukler, Dienstboten, wilde Tiere, mystische Gestalten und natürlich jede Menge Ritter zwischen den Kulissen.

Viele der Stücke entstammen der Feder des Tirolers Josef Georg Schmalz. Er war Köhler und Hobbydramatiker und schlachtete den Stoff der zu seiner Zeit populären Ritterromane für seine Stücke aus. Manche bezeichnen den Mann, der im 19. Jahrhundert von Brixlegg, später von Kiefersfelden aus das Inntal mit seinen Werken versorgte, liebevoll als „Bauern-Shakespeare“.

Auch der verstorbene Kieferer Kasperl wusste Schmalz zu schätzen. „Er hat fantasievolle Sachen geschrieben, blumige Redewendungen erfunden, und sich gar ned an Raum und Zeit gehalten“, sagte Andreas Gruber noch Anfang Juli.

Natürlich kommt heuer, im großen Jubiläumsjahr, ein Schmalz-Stück zur Aufführung. „Kaiser Oktavianus. Oder: Die unschuldig mit ihren Kindern in das Elend vertriebene Kaiserin Dianora“ spielt in Rom wie in Jerusalem und Valencia und spannt einen Bogen von der Antike bis zur Entdeckung Amerikas. Das sind locker 1500 Jahre. Aristoteles, der für das Drama die Einheit von Ort und Zeit forderte, wäre glatt in Ohnmacht gefallen.

Früher dauerte ein echter Schmalz stolze sechs Stunden. Als Gruber 2004 die Spielleitung übernahm, wurde das geändert. 180 Minuten inklusive Pausen sind jetzt die Obergrenze. Gruber hat die überlangen Dialoge gestrafft. Ein Theaterstück war auf dem Land früher einer der Höhepunkte des Jahres. Um die heutigen Zuschauer bei der Stange zu halten, baute der Kieferer Kasperl gerne Showeffekte mit ein – „damit die Leut a Freud ham“, wie er einmal sagte: wilde Zweikämpfe mit dem Schwert, Feuersbrünste, blutige Hinrichtungen, über die Bühne schwebende Figuren. Die kreativen Ideen kamen dem verstorbenen Spielleiter während der Arbeit als Landwirt. „Ma hat viel Zeit zum Denken, wenn ma am Traktor obn sitzt. Da kann ma die Gedanken scho schweifen lassen.“

Die Kasperlrolle, die Gruber 35 Jahren innehatte, hat Schmalz dem Alt-Wiener Volkstheater entlehnt. Dort gab es den Hanswurst. Wie dieser ist auch der Kieferer Kasperl eine Figur aus dem Volk. Er kommentiert bissig das Treiben der großkopferten Protagonisten und prangert ihre moralischen Schwächen an. Als einziger spricht er Dialekt und damit vielen Zuschauern aus dem Herzen.

Das tun die anderen Figuren nicht. Sie parlieren – anders kann man es kaum nennen – in einer Sprache, die es eigentlich gar nicht gibt. Wer das erste Mal nach Kiefersfelden kommt und den Darstellern lauscht, muss erst mal schmunzeln. Der Text wird auf Hochdeutsch, aber mit bairischem Akzent dargeboten. Die Betonungen sind ungewöhnlich. Fast klingt es, als würden die Figuren, egal ob Kaiser, Räuber oder Ritter, predigen.

„Diese Sprache gibt’s nur in Kiefersfelden“, sagt Rudolf Erhard, der die 140-seitige Festschrift zum 400-jährigen Bestehen des Dorftheaters verfasst hat. Entwickelt hat sich der eigenwillige Singsang wohl im 19. Jahrhundert. Die Kiefersfeldener Darsteller sprachen damals, wie überall üblich, einen starken Dialekt, aber keine Hochsprache. Die hochtrabenden Texte der Stücke waren jedoch in Schriftdeutsch verfasst. Aus dem Versuch der Dörfler „nach der Schrift“ zu reden, entstand der nun typische Tonfall. Sprechunterricht gibt es für das einzigartige Kieferer Theaterdeutsch übrigens nicht. Da müssen die Mitwirkenden reinwachsen.

An den Ritterschauspielen teilnehmen dürfen nur Einheimische. Wer mitspielt, erhält eine kleine Aufwandsentschädigung sowie Brotzeit und Bier. Die typische Theaterkarriere beginnt im Jugendalter als Knappe oder Zofe mit wenig bis gar keinem Text. So hat auch die aktuelle Darstellerin der Kaiserin Dianora angefangen. Die Landschaftsarchitektin war schon oft dabei. Doch ist es ihre erste Titelrolle. Zwischendurch musste sie ab und an auch pausieren. „Frauenrollen gibt es ja nicht so viele“, sagt sie. Aktuell sind es acht – im Gegensatz zu rund 50 Herren auf der Bühne. Ihr „Gatte“, Kaiser Oktavianus, wirkte schon fast 30 Mal bei den Spielen mit. Er seufzt: „Tradition verpflichtet, aber so schöne große Rollen sind mit viel Lernen verbunden.“

Durch das hohe zeitliche Engagement, das die Darsteller aufbringen müssen, sind angeblich schon Beziehungen kaputt gegangen. In gleichem Maße hat das Theater aber auch Menschen zusammengebracht und Ehen gestiftet. Geprobt wird bereits sieben bis acht Monate vor den Aufführungen, allerdings noch ohne Kostüm und Bühne. Die aufwendigen, handgeschneiderten Gewänder gibt es dann erst kurz vor Beginn der Spiele. Die Frauen tragen wunderschöne Hochsteckfrisuren, die Herren Prinz-Eisenherz-Perücken und Ritterstiefel. „Es wird immer sehr offensiv geschminkt“, sagt Rudolf Erhard. Auch die Männer haben Rouge auf den Wangen und manchmal auch Kajal im Gesicht. Gerade die Bösewichte können auf diese Weise besonders effektvoll mit den Augen rollen.

Das auffälligste Make-up bekommt traditionell der Kasperl verpasst. Eine rot bemalte Nase. Glühende Wangen. Und zwei hochstehende schwarze Augenbrauen in V-Form. Das passt gut zum rot-blau-gelben Kasperlkostüm. Erstmals wird es heuer der Kieferer Trachtenvereinschef und Hochzeitslader tragen – und seinem unvergessenen Vorgänger damit die Ehre erweisen.

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