Rücktritt aus der Nationalmannschaft

Die Geschichte einer Entfremdung

von Redaktion

Von Stefan Sessler und Maximilian Heim

München – Als die Bundeskanzlerin den Raum betritt, isst Mesut Özil gerade Hühnchen mit Blumenkohl. Vor dem Fußballer, der in der Jugend für Vereine wie Westfalia 04 Gelsenkirchen und Teutonia Schalke gespielt hat, steht eine extragroße Flasche Tabasco. Neben Özil sitzen die deutschen Nationalspieler Sami Khedira und Tim Wiese. Es ist ein Bild aus einer längst vergangenen Zeit, ein Stillleben aus dem DFB-Museum.

Aber es ist noch nicht so lange her. Wir sind im Jahr 2012, die Nationalmannschaft bereitet sich in Danzig auf die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine vor. Özils Hühnchen wird kalt, aber er unterhält sich brav mit Bundeskanzlerin Merkel. Angelas Vorzeigejungs mit Wurzeln in Tunesien (Khedira), der Türkei (Özil), Polen (Klose) oder Bergisch Gladbach (Wiese) wissen, was sich gehört – Vitamine, Eiweiß und eine Vorbildrolle für ein ganzes Land.

Inzwischen ist einiges aus dem Ruder gelaufen. Mesut Özil (29), der Mann, der dem türkischen Alleinherrscher Recep Tayyip Erdogan eines seiner Trikots geschenkt hat, hat die größte Verwerfung in der Geschichte des DFB heraufbeschworen. Aus Sport ist Politik geworden, in sintflutartigem Tempo. Es geht nicht mehr nur um falsche Neuner, Lücken im Mittelfeld und eine aus deutscher Sicht vermurkste WM. Sondern um Rassismus und vermeintlich gescheiterte Integration.

Der Fall Özil hat womöglich eine kleine Staatskrise ausgelöst, zumindest aber eine deutsche Fußballkrise nie gekannten Ausmaßes. Die Spitzenpolitiker des Landes melden sich am Montag zu Wort, mit Interviews oder Twitter-Beiträgen. Merkel etwa lässt über eine Sprecherin ausrichten: „Die Kanzlerin schätzt Mesut Özil sehr. Mesut Özil ist ein Fußballer, der viel für die Nationalmannschaft getan hat. Die Entscheidung muss man respektieren.“ Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) sagt: „Es ist ein Alarmzeichen, wenn sich ein großer deutscher Fußballer wie Mesut Özil in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt und vom DFB nicht repräsentiert fühlt.“

Grünen-Politiker Cem Özdemir, der selbst türkische Wurzeln hat, setzt einen anderen Schwerpunkt. „Es ist sehr bedauerlich, wie sich Özil jetzt äußert. Damit spielt er denen einen Steilpass zu, die unsere Demokratie ablehnen – hier wie dort.“ Mindestens so desaströs sei aber das Agieren der DFB-Spitze. „Grindel zerhackt unsere Integrationsgeschichte. Wollen die, dass bald junge Deutsch-Türken für Erdogan spielen?“

Das ist eine provokante Frage. Und sie zeigt: Das Statement, das Özils Marketingagentur am Sonntag hübsch aufgeteilt in drei Portionen veröffentlicht, lässt Raum für Interpretationen. Sinngemäß lässt Özil in den auf Englisch verfassten Texten wissen: 1. Zu mir gehören zwei Identitäten, eine deutsche und eine türkische. 2. Das Foto mit Erdogan hatte keinerlei politische Intention – und ich habe es nicht verweigert, weil ich dem Staatschef eines meiner beiden Heimatländer mit Respekt begegnen will. 3. Die Kritik vieler deutscher Medien (besonders durch die „Bild“-Zeitung) und vonseiten des DFB hat mich tief verletzt. Und ich halte sie ein Stück weit für heuchlerisch.

Rumms. Und Özils Statement geht noch weiter. Attackiert den DFB-Sponsor Mercedes-Benz, der selbst mit Ermittlungen im Zuge der Diesel-Affäre zu tun habe und an ihn als Sportler hehre moralische Maßstäbe anlege. Stichelt gegen Lothar Matthäus und dessen Foto mit Russlands Staatschef Wladimir Putin (wie Erdogan auch sehr viel eher Despot als Demokrat). Und mündet schließlich in einer Groß-Anklage gegen DFB-Präsident Reinhard Grindel, dem Özil vorwirft, ihm bei einem Gespräch vor der WM nicht richtig zugehört zu haben. Überhaupt sei Grindel, frei zusammengefasst, ein unangenehmer, unfähiger und inkompetenter Typ.

Özils Rücktritt ist das unheilvolle Ende einer Nationalelf-Karriere, die sportlich überaus beachtlich ist. Ende 2007 legt Özil die türkische Staatsangehörigkeit ab und entscheidet sich damit für die deutsche Nationalelf – was ihm damals heftige Kritik aus der Türkei einbringt. Schüchtern und kaum volljährig wird er Bundesliga-Spieler bei Schalke 04 und Werder Bremen. 2009 gewinnt Özil mit der deutschen U21-Elf die Junioren-EM – das Gerüst jener Mannschaft wird 2014 den Weltmeistertitel in Rio holen. Auch im Verein geht es für Özil hoch hinaus – nach drei Jahren Real Madrid spielt er inzwischen seit fünf Jahren bei Arsenal London. Und: Zwischen 2010 und 2017 wird Özil von den Fans (!) fünfmal zum „Nationalspieler des Jahres“ gewählt.

Was nun passiert mit dem Fußballer Özil, der ja – das darf man bei aller berechtigten Kritik nicht vergessen – immer auch der karitativ sehr engagierte Mensch Özil ist? Kaum vorherzusagen. Schon brandet Beifall aus den nationalistischen Reihen der Türkei auf. Außenminister Abdulhamit Gül sagt: „Ich gratuliere Mesut Özil, der mit seinem Ausscheiden aus der deutschen Nationalmannschaft gegen den faschistischen Virus sein schönstes Tor geschossen hat. Möge dein Weg und das Glück dir offen stehen.“

Am Montag reagiert auch der DFB auf die immer hitziger geführte Debatte. Der Verband teilt schriftlich mit, man verbitte sich den Vorwurf des Rassismus – und werde trotz des Wirbels um Özil weiterhin für die Integration von Spielern mit Migrationshintergrund arbeiten. Auch habe man selbst, nun ja, durchaus Fehler gemacht.

So wird also Bundestrainer Joachim Löw, der mit Harun Arslan denselben Berater wie Özil hat, Ende August den Kader für die nächsten Spiele bekannt geben. Sein bisheriger Spielmacher (Marktwert: 45 Millionen Euro) wird fehlen. Auch die Bundeskanzlerin hat sich nicht angekündigt. Andere Zeiten als damals, beim Abendessen in Danzig. Ganz andere Zeiten.

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