Historisches Ausscheiden

Weltmeister der Schmerzen

von Redaktion

Von Günter Klein

Kasan – Immer wieder erstaunlich, wie Fußballer das hinbekommen: Dass sie ihre Spielkleidung ausziehen, sich duschen, herrichten und beim Verlassen des Stadions sagen können, woran es gelegen hat. Fast so, als hätten sie alles von außen beobachten können. Kühl und analytisch.

Es bleibt kein Rätselraten, warum die deutsche Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in der Vorrunde ausgeschieden ist. Die Beteiligten konnten es schon eine Stunde nach dem 0:2 gegen Südkorea erklären. Es sind fußballspezifische Gründe, aber das will jetzt daheim in Deutschland keiner hören. Das Land verlangt nach einer Erklärung für das große Ganze.

Doch auch die können die Nationalspieler liefern. Sie haben gespürt, dass sie bei dieser Weltmeisterschaft 2018 nichts reißen würden. Sie hatten gewissenhaft trainiert, wie immer, mit ihren Gummibändern um die Beine, mit Schlitten, die sie im Sprint hinter sich herzogen. Sie waren auf deutsche Art turnierfit. Sie haben in allen Spielen am Schluss stürmen können auf Teufel komm raus. Doch ihnen fehlte die Gewissheit, der Glaube ans Gelingen.

Die entscheidenden Aussagen kamen von Julian Draxler: „In den Trainingseinheiten war es schwerfällig, in den Spielen dann auch. Es gab wenige Überraschungsmomente, wenig kreative Szenen, es war alles harte Arbeit. Mein persönlicher Eindruck ist, dass das Feuer nicht so da war wie 2014.“

Das Feuer des deutschen Fußballs ist erloschen, nach und nach. Es hatte im November 2017 begonnen, mit Testspielen gegen England und Frankreich. 2018 folgten als Gegner Spanien und Brasilien. Kein Sieg, keine überzeugenden Auftritte (außer gegen Spanien), doch immer wieder die Ansage des Bundestrainers: „Wir werden zwei Wochen Trainingslager haben, da werden wir uns einspielen.“ Oder mit den Worten von Verteidiger Mats Hummels: „Wir glaubten, wir werden den Schalter umlegen, wenn die WM losgeht. Und es ist ja auch ein Zeichen von Selbstvertrauen, dass man an sich nicht zweifelt.“ Dass man wieder einen deutschen Sommer schafft, wie alle vier Jahre.

Wobei immer klar war: Russland würde nicht wie Brasilien sein. Die WM 2018 war in viel höherem Maße durch die politischen Dimensionen belastet als das Turnier vier Jahre davor. In Brasilien gab es im Vorfeld Proteste gegen die Kosten, die die WM-Ausrichtung verursachten und zulasten der Bevölkerung gingen. Russland war politisch eine andere Hausnummer. Putin. Menschenrechte. Inhaftierte und tote Kritiker. Ein abgeschossenes Zivilflugzeug. Man konnte davon ausgehen, dass es nicht zum traditionellen Kabinen-Selfie Mannschaft mit der Kanzlerin kommen würde. Denn sie würde eine Reise zur WM vermeiden.

Darum hat Angela Merkel das Team schon besucht, als es in Südtirol trainierte. Spötter meinten: ein Treffen, solange Merkel noch im Amt ist – und Jogi Löw auch. Der sagte vor dem Besuch etwas ungelenk: „Sie ist zwei, drei Stunden da und wird die Abläufe nicht groß stören.“

Die Bundeskanzlerin kam an einem Sonntag, am Samstag hatte Löws Mannschaft 1:2 gegen Österreich verloren. Er wusste, dass er Zeit für die Aufarbeitung des Spiels brauchen würde. Löw war froh, dass ihm die Spieler die Repräsentationsarbeit abnahmen. Das gab nette Bilder: einmal Merkel mit den etablierten Spielern, den älteren, den Weltmeistern, dann mit den jungen. Am Ende ein Gruppenfoto vor dem Hotel in Eppan. Merkel in der Mitte, mit den Händen fast selbstironisch die Raute formend. Die meisten Spieler wussten nicht, wohin mit den Armen. Einige ließen die Hände in den Hosentaschen verschwinden.

Joachim Löw ist nun in ähnlich akute Bedrängnis geraten wie Angela Merkel, der das Seehofer-Ultimatum im Nacken sitzt. Es könnte passieren, dass Löw zurücktritt. Gestern Mittag trat er den Heimflug mit der Mannschaft an: Moskau–Frankfurt, über zwei Wochen früher, als es in der Turnierplanung des DFB stand. Verbandspräsident Reinhard Grindel erklärte, dass man sich „von der sportlichen Leitung erklären lassen wird, was da passiert ist“, aber dass man nichts überstürzen wolle. Wenigstens ein paar Tage muss man nachdenken. Vor sechs Wochen hatte Grindel dem Bundestrainer einen neuen Vertrag gegeben – vorzeitig verlängert bis 2022.

Als die Entscheidung über die weitere Zusammenarbeit fiel, hatte der DFB noch nicht die politische Affäre rund um die Nationalmannschaft an der Backe. Am 14. Mai tauchten Bilder auf von einem Treffen der Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan in London. Wahlkampfhilfe pur.

In sechs Wochen schaffte es der DFB nicht, die Sache vom Tisch zu bekommen. Reinhard Grindel setzte darauf, dass sie einfach vergessen würde, „wenn der Ball in Russland rollt“. Doch als er für die deutsche Mannschaft ausgerollt war, flackerte sie wieder auf. Im Stadion von Kasan beugten sich Zuschauer über die Brüstung, um Mesut Özil anzugiften. Die DFB-eigenen Sicherheitskräfte gingen dazwischen, Torwarttrainer Andy Köpke stellte sich vor Özil. Der hatte nicht schlecht gespielt. Verunsichert wie die anderen halt, aber bemüht. Und man konnte sehen, dass er ein großartiger Fußballer ist.

Und nun? Ein AfD-Bundestagsabgeordneter twitterte am Mittwoch: „Ohne Özil hätte Deutschland gewonnen.“ Er schrieb, Sebastian Rudy hätte spielen müssen. Zwar stand Rudy nicht zur Verfügung, war unter Vollnarkose drei Tage zuvor an der Nase operiert worden. Doch Fakten zählen nicht in der aufgewühlten Diskussion um Özil.

Joachim Löw hatte noch versucht, seinen Spieler aus der Sündenbockrolle herauszuholen, weil er ihn gegen Südkorea wieder aufstellte, obwohl es gegen Schweden ohne die Nummer 10 besser gelaufen war. Löw hatte Özil immer verteidigt, die Vorwürfe waren auch immer die gleichen gewesen. Vor allem: Singt die Hymne nicht mit.

Mesut Özil selbst hat erklärt, warum das so ist. Im Buch „Die Magie des Spiels“. Während die anderen pflichtschuldig die Lippen bewegen, betet er: „Allah, gib uns für das heutige Spiel Kraft und schütze mich und meine Teamkollegen vor Verletzungen. Allah, du kannst uns den Weg öffnen oder auch verschließen. Führe uns nicht vom rechten Weg ab. Amen.“ Die Deutschen sind nicht gegen das Beten, aber für einige soll es nicht zu Allah sein.

Auch Grindel, der CDU-Politiker war, ehe er DFB-Präsident wurde, hat bemerkt: Der Multikulti-Charakter der Nationalmannschaft, 2010 noch weltweit und im eigenen Land gefeiert, wird häufig nicht mehr als Pro-Argument wahrgenommen. Der DFB beschäftigt in seiner Presseabteilung gestandene Ex-Journalisten, sie haben Strategien durchgespielt, wie sie die Sache mit Özil und Gündogan auflösen könnten – doch sie haben keine gefunden. „Es geht tiefer“, befindet Grindel. Als Zeitenwende markiert er die Flüchtlingskrise 2015. Die Deutschen haben Angst vor dem Fremden bekommen, das geht so weit, dass sie die für fremd halten, die doch die eigenen sind.

Die Schicksals-Linien von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen aufeinander zu. Der Fußball, das steht fest, hat in diesem Sommer nichts tun können, um der Politik und dem Land zu helfen.

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