München/Berlin – Man sieht Zorn, doch der Ton bleibt stumm. Hinter verschlossenen Türen tagt die CSU-Spitze, Journalisten können für wenige Minuten durch ein Glasfenster im Erdgeschoss der Parteizentrale nach drinnen sehen. Da bietet sich ein Schauspiel. Hinten links im Eck greift sich Edmund Stoiber den Parteivorsitzenden, er redet ausführlich auf Horst Seehofer ein. Sie gestikulieren raumgreifend, Stoiber beidhändig, Seehofer mit scharfen Bewegungen der rechten Handkante. Die Parteifreunde halten respektvoll Abstand. Stoiber tigert weiter, knöpft sich als Nächstes Markus Söder vor, wieder energische Gesten, sichtbarer Groll.
Es kann nur ein Thema geben: Angela Merkel. In diesen Minuten hinter Glas ringt die CSU um ihre Haltung und ihre Härte zur Kanzlerin. Stoiber dürfte ihr härtester Kritiker in dieser Runde im Münchner Norden sein. Nicht, dass es Seehofer und Söder viel anders sehen würden; das umstrittene Zitat des Parteichefs von Donnerstag, er könne „mit der Frau nicht mehr arbeiten“, klang sehr glaubwürdig. Noch loten sie aber aus, wie eine Lösung ohne kompletten Bruch in der Union aussehen kann.
Die Gesten täuschen nicht. Laut Ohrenzeugen im Saal hält Stoiber ein emotionales Plädoyer gegen Merkels Plan, statt auf die deutsche Grenzsicherung lieber auf europäische Lösungen zu setzen. So könne man die „Überforderung Deutschlands“ nicht lösen, wird er zitiert. „Diejenigen, die jetzt immer noch immer nur für europäische Lösungen plädieren, haben es mitzuverantworten, dass das Parteiensystem erodiert ist.“ Stoiber schimpft auf Merkel und auf ihre Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, in der Erregung nennt er sie „diese Karrenbacher“.
Viele äußern sich so, auch aus der aktuell ersten Reihe. Alexander Dobrindt, der polarisierende Chef der Landesgruppe, redet von einer „Systemkrise“, einer „tiefen Vertrauenskrise“. Er habe „kein gutes Gefühl, wenn der Verweis auf Europa dazu führen soll, nationale Maßnahmen zu verhindern“, sagt Dobrindt. Stattdessen müsse man „das Signal an die Welt geben: Es geht nicht mehr, nur einen Fuß auf europäischen Boden zu setzen, um nach Deutschland zu kommen.“
Seehofer selbst wird zitiert mit der Warnung, sich nicht von angeblichen Fristen an Merkel blenden zu lassen. „Die Kanzlerin will die nationale Lösung nicht.“ Er wirft ihr vor, keine Rücksicht auf die CSU vor der Landtagswahl zu nehmen. „Das ist erschreckend.“ Sowas habe er selten erlebt. Dreimal wiederholt er seine Analyse zu den Grenzen: „Wir haben die Lage nicht im Griff.“
Das klingt schrill, schroff, ist es auch – dennoch fährt die CSU an diesem Tag hinter Glas eine Doppelstrategie. Die harschen Worte umkleiden eine Fristverlängerung an Merkel. Seehofer schlägt einen Stufenplan vor: Sofort an den Grenzen alle zurückweisen, die eh eine Einreisesperre haben. Später, Anfang Juli nach dem EU-Gipfel, die Abweisung auf Flüchtlinge erweitern, die andernorts bereits registriert wurden. Das ist der viel entscheidendere Schritt. In der Zwischenzeit soll die Kanzlerin versuchen, mit einzelnen Staaten Regeln auszuhandeln, die genauso wirken wie Abweisungen, aber kein deutscher Alleingang wären. Das erlaubt zwei Lesarten: Die CSU gibt nach. Oder: Die CSU gibt Merkel eine Gnadenfrist. „Es ist ein ganz schwieriger Ritt“, sagt Seehofer in der Runde.
Zumal zeitgleich in Berlin Merkel die CDU-Spitze zusammenholt. Auch in der eigentlich endlos geduldigen CDU rumort es. Viele Funktionäre teilen Seehofers Position, schauen neidvoll auf seine beinharte Taktik, hätten von Merkel gern einen härteren Kurs – sie wollen sich aber nicht von der CSU erpressen lassen. So kommt es zu kuriosen Nickligkeiten: Versehentlich haben Merkel und Seehofer ihre Pressekonferenzen beide auf 14 Uhr angesetzt. Weil aber nicht beide gleichzeitig vom Fernsehen übertragen werden können, müsste einer warten. Stundenlang ringen offenbar Mitarbeiter hinter den Kulissen. Vergeblich. Am Ende überschneiden sich die Auftritte.
Intern sagt Merkel, es herrsche bei 62,5 der 63 Punkte im Masterplan Übereinstimmung. Das klingt nach viel, sorgt aber für Kopfschütteln – weil die meisten auf der Politbühne gar keinen Schimmer haben, was Seehofers Punkte sind. Seinen Masterplan stellte er bisher einzig Merkel vor. Nur Bruchstücke kursieren. Die Zurückweisungen natürlich, der umstrittenste Punkt. Dann die radikale Umstellung von Geld- auf Sachleistungen für Flüchtlinge bundesweit. Der Aufbau von „sicheren Orten“ in Transitländern, damit könnte der Balkan gemeint sein. Weitere sichere Herkunftsstaaten ausweisen, falls der Bundesrat mitspielt. Mehr Geld für die Krisenländer, um dort Fluchtursachen zu bekämpfen.
Nicht alles davon hat politische Sprengkraft, zumindest nicht in der Union (eher schon beim Koalitionspartner SPD). Trotzdem ist es de facto ein Blankoscheck, den die CDU Seehofer nun ausstellt.
Merkel weiß das. Vor den Kameras hat sie einen ungewöhnlichen Auftritt: Gefasst, aber bedrückt wirkt sie, sogar erschreckend ehrlich. „Ein Kompromissvorschlag, der mich unter Handlungsdruck setzt“, sei das. Eine „ernste Lage“, „sehr schwierige Situation“. Nein, sie wisse nicht, ob es gelinge, Verträge mit anderen Staaten zu schließen. Das Wort „bilateral“ mag ihr kaum über die Lippen kommen, dreimal setzt sie an.
Merkel lässt bittere Journalistenfragen über sich ergehen. Ob sie eine Getriebene sei bis zu Bayerns Landtagswahl? Merkels Antwort ist lang. „Eine Bundeskanzlerin und ein Innenminister müssen gesprächsfähig sein“, sagt sie irgendwann. „Diese Voraussetzung ist gegeben.“
Merkel sagt aber auch einen Satz, der eilig nach München übermittelt wird und noch Folgen haben dürfte. Wenn es Zurückweisungen an der Grenze gebe ohne Abstimmung mit EU-Partnern, dann wäre das eine Frage „meiner Richtlinienkompetenz“. Sprich: Sie würde es dem ihr unterstellten Bundesinnenminister verbieten. Das wäre die Eskalation, die Sollbruchstelle der Koalition.
Seehofer hört das in seiner parallel laufenden Pressekonferenz. Er reagiert auf brutalstmögliche Art: mit einem Achselzucken und mit Spott. Fest entschlossen sei er, sagt er. Und: „Mir gegenüber hat sie nicht mit der Richtlinienkompetenz gewedelt.“ Wedeln, was für ein Wort für eine Bundeskanzlerin, als wäre ihr Weisungsrecht ein Staubtuch. Seehofer fügt noch an: „Das wäre auch unüblich zwischen zwei Parteivorsitzenden.“