Hirtlbach – Fernweh. Wer’s einmal wirklich gefühlt hat, weiß: Es geht nicht weg. Barbara Hillreiner kennt dieses Gefühl. Doch viel Zeit für Fernweh gab es für sie und ihren Mann Hans in den vergangenen 30 Jahren nicht. Zwei eigene Firmen, zwei Kinder. Da kann niemand einfach die Koffer packen und sich in ein langes Abenteuer stürzen. Zehn Tage. Einmal im Jahr. Das war’s. Mehr war nicht drin für das Unternehmerpaar. Jetzt ist alles anders. Am 18. Juni starten die beiden aus dem Dörfchen Hirtlbach im Kreis Dachau ins große Abenteuer. Sie segeln weg. Mit ihrem eigenen Boot, komplett selbst gebaut. Dass sie jemals wieder zurückkommen, ist unwahrscheinlich.
Der Metallbearbeitungsfachmann Hans Hillreiner, 55, steht bei sich zu Hause im Garten, läuft vorbei an Erdbeeren, Nelken und einer wilden Wiese. Dann sieht man es: das Boot. 4,08 Meter hoch, 17 Meter lang und 30 Tonnen schwer. Eine Segelyacht aus Aluminium, die er in den vergangenen acht Jahren gebaut hat. Alleine.
Ein Boot baut man sich, wenn man gerne segelt, auf Bootsmessen geht und feststellt: Das, was ich will, kann ich mir niemals leisten. Sagt zumindest Barbara Hillreiner, 53, und lacht. Derweil hat das Abenteuer gar nicht im Wasser angefangen, sondern: in der Luft. Daheim auf der Couch liegen – das hat das Paar noch nie erfüllt. Der Kopf braucht immer was Neues, bloß keinen Trott aufkommen lassen, „dafür ist das Leben zu schade“, sagt Hans Hillreiner.
Also probierten sie etwas Neues aus: Cessna fliegen. Aber Barbara Hillreiner fühlte sich nicht wohl, das war nicht ihr Sport. Ein Geburtstagsgeschenk für ihren Mann änderte alles. Ein VHS-Kurs für einen Motorbootschein, Binnengewässer. Doch schnell stellten sie fest: Da darfst du nirgends fahren. Sie stockten nach und nach bis zum Sportküstenschifferschein auf. „In dem Moment, als ich zum ersten Mal die Leinen losgemacht hab’, hab’ ich gemerkt: Jetzt bist du geistig frei – zum ersten Mal seit der Selbstständigkeit“, sagt Hans Hillreiner. „Da kam zum ersten Mal der Gedanke: Das wäre doch was für die Zukunft.“
So entschied er sich vor acht Jahren, nebenher das Boot zu bauen, auch wenn anfangs gar nicht geplant war, damit wegzufahren und vielleicht nicht mehr zurückzukommen. „Aber für den ganzen Aufwand wäre es einfach zu schade, nur für ein paar Wochen im Jahr damit in den Urlaub zu fahren“, sagt Barbara Hillreiner. „Also entstand in den letzten zwei Jahren die Idee, einfach alles aufzugeben.“
Doch wie baut man ein Boot? Konstrukteure hatten früher Pläne von ihren Schiffen angefertigt, deren Kinder verkaufen sie heute gegen eine Lizenzgebühr. Teilweise vogelwild seien die Pläne, zurecht findet sich da keiner, sagt Hillreiner. Aber wer sich durchbeißt und selber rumtüftelt, steht irgendwann vor seiner eigenen 17-Meter-Yacht im Garten. So ein Typ war Hillreiner schon immer. Früher, als Teenager, hat er die Motoren seiner Roller repariert. „Die Dinger waren ja ständig kaputt, dann hab’ ich sie auseinander gebaut und wieder so zusammengebaut, dass es wieder ging.“ Beigebracht hat ihm das keiner.
Jedes Teil seines Aluminiumbootes hatte er selbst in der Hand, weiß genau, wo welches Kabel verläuft, wo welcher Anschluss ist. Er hat sich mit jedem Teil auseinandergesetzt, weiß: So funktioniert die Elektrik, so funktioniert die Steueranlage, so der Motor. Er weiß, welches Teil mit welchem zusammenspielt und wo er hingreifen muss, wenn etwas kaputt ist. Die Schweißarbeiten, teilweise mit acht Meter großen Platten, hat er auch komplett alleine erledigt. „Da wollt’ ich keinen dabeihaben. Wenn ich jemand die Finger wegzwick’, sind’s wenigstens meine eigenen.“ Hilfe bekam er erst nach sechs Jahren, als es an den Innenausbau und ans Streichen ging. Da stieg dann seine Frau mit ein.
Sich ein Boot zu bauen, ist das eine, den Entschluss zu fassen, damit wegzusegeln und wohl nicht mehr zurückzukommen, das andere. Aber: Materielles hat für die Hillreiners keinen Wert – mal davon abgesehen, was man wirklich zum Leben braucht. „Der ganze Kommerz, der deutsche Trott, das ist einfach nicht unsere Welt.“ Sie sind sich sicher: Wer einmal das Leben gelebt hat, das wirklich möglich ist, kann nicht mehr zurück.
Das Boot im Garten hat schon jetzt eine besondere Wirkung auf die beiden. „Ich fühle mich dort jetzt schon mehr daheim als im Haus.“ Davon haben sich die Hillreiners rückblickend seit Jahren gelöst. Keine Deko, keine neuen Fotos, das Haus wurde mit der Zeit immer leerer. Heimat? Kein Thema für die beiden. Es ist nicht Hirtlbach, das ihre beiden Herzen berührt. Es ist die Freiheit, es ist die Welt.
Vor zwei Jahren haben die beiden Urlaub auf den Azoren gemacht. Die Anlaufstelle für alle Weltumsegler. Dort trifft man Menschen, die seit über zehn Jahren unterwegs sind, Menschen, an denen man sieht: Es ist richtig, seinem Herzen zu folgen. Und zwar jetzt. „Denn wenn man sagt, man macht es später, dann: Macht man es nie“, sagt Hans Hillreiner.
Dass ihnen das Geld ausgeht, davor haben sie keine Angst. Sie haben gespart. „Wir brauchen doch eigentlich nichts, und für das, was man unbedingt braucht, reicht’s.“ Und wer seine Jugendliebe im Schulbus kennenlernt, seit mehr als 30 Jahren alles teilt, der hat auch keine Angst, künftig den ganzen Tag miteinander zu verbringen. Die beiden sind mehr als nur Ehepartner, sie sind Freunde.
Und mit ihrem Mann, draußen auf dem Meer, da kann auch Barbara Hillreiner frei sein. „Keinerlei Verantwortung mehr haben. Nur mir gegenüber und vielleicht noch ein bisschen ihm gegenüber, das ist für mich Freiheit“, sagt sie und sieht ihren Mann lange an. Ihre beiden Töchter, 23 und 24 Jahre alt, haben sie zu selbstständigen und selbstbewussten Frauen erzogen. Die eine übernimmt die eine Firma, die zweite die andere. Die beiden haben nie die Pläne ihrer Eltern hinterfragt – „wenn ihr das machen wollt, dann macht das“, war die Reaktion. „Jetzt können wir einfach unabhängig sein, einfach was anderes sehen als das klassische Oberbayern“, sagt sie. Dafür ist auch das Boot das allerbeste Reisemittel, das es gibt. Man hat alles dabei und kann überall hin, wo man möchte – und bleiben, wo es einem gefällt. Fremde Länder bereisen, die Menschen dort wirklich kennenlernen. Auf dem Boot haben sie alles, was sie brauchen, Kühlschrank, Gefriertruhe, Herd, alles wird mit Solarstrom betrieben. Gewaschen wird künftig in Waschsalons überall auf der Welt. „Das ist die beste Anlaufstelle für Weltenbummler, um Kontakte zu knüpfen und gleich alles Wichtige zu erfahren“, sagt Barbara Hillreiner.
Noch steht der 17-Meter- Traum im Garten, hinter dem Erdbeerbeet, aber am 18. Juni geht’s per Schwertransport nach Nürnberg. Da wird das Boot am 20. Juni zum ersten Mal ins Wasser gelassen. Einen Plan für die Reise, oder besser, für das neue Leben, gibt es nicht. „Stress hab’ ich lang’ genug gehabt“, sagt der Unternehmer. „So ein Plan wäre nur wieder Stress.“
Von Nürnberg geht es erst mal immer Richtung Frankreich und bei Marseille ins Mittelmeer. Nächstes Jahr im Frühjahr kommen dort die Segel aufs Boot, dann, ein, zwei Jahre Mittelmeer, dann Karibik, Südsee. Wie viele Jahre? Keine Ahnung. „Das Leben ist nicht zu kurz, um glücklich zu sein, man darf es nur nicht mit Nichtstun verschwenden.“
„Manchmal, da kriegt man vor der eigenen Courage aber auch noch ein bisschen Schiss“, sagt Barbara Hillreiner. Dann lacht sie. Sie weiß: In ihrer Kabine können sie vom Bett aus die Sterne sehen. Bevor es losgeht, müssen sie noch die Fenster ins Boot einsetzen und streichen. Klingt nach viel Arbeit, aber Barbara Hillreiner lacht wieder nur. „Wenn man so denkt, braucht man gar nicht wegfahren. Man kann nie alles wirklich fertig bekommen.“ Einen Traum muss man anfangen zu leben. Dafür ist er da. Und dafür trägt das Boot den perfekten Namen: Dream.