München – Der erste Tag der Türkei-Wahlen für im Ausland lebende Staatsbürger wirkt wie die Ruhe vor dem großen Ansturm. „Um neun Uhr haben wir die Türen geöffnet, da warteten ungefähr 30 Leute“, erzählen die beiden 19-jährigen Sicherheitsmänner Can und Emre an der Alten Bayerischen Staatsbank, „die Organisatoren rechnen mit etwa 3000 Wählern pro Tag“, sagt Emre. An den Wochenenden wird der größte Andrang erwartet. In der Landeshauptstadt ist ab sofort eines der beiden bayerischen Wahllokale eröffnet. Das zweite befindet sich in Nürnberg. Bundesweit sind es 13.
In der Lichthalle der Alten Bayerischen Staatsbank herrscht am Donnerstagmorgen noch kein Gedränge. In aller Ruhe holen die Leute ihre Wahlunterlagen an einem der neun Tische ab: ein Bogen für die Liste der Präsidentschaftskandidaten, ein Bogen für die Parteien, die zur Wahl stehen. Jeweils einen Stempel muss jeder setzen, den Briefumschlag schließen und in die Urne werfen. Es geht zügig voran.
Auch Fedva Arslan, 67, hat das gerade getan. Als eine der Ersten hatte sie sich heute angestellt, weil sie mit mehr Andrang rechnete. Die Rentnerin lebt im Münchner Stadtteil Hasenbergl. Von 1973 bis zur Rente arbeitete sie als Schneiderin und hat in Deutschland drei Söhne großgezogen. Wen sie gewählt hat? „Das sage ich nicht. Jedenfalls nicht Erdogan! Heute sagt er irgendwas, morgen genau das Gegenteil. Man kann sich auf diesen Mann nicht verlassen“, begründet Arslan. „Ich habe für Atatürk, die Republik und für die Demokratie gestimmt!“, so viel verrät sie.
Spekulieren kann man daher, dass sie womöglich einen der größten Herausforderer, Muharrem Ince und dessen Partei „Cumhuriyet Halk Partisi“ (CHP) wählte, deren Gründer Mustafa Kemal Atatürk ist.
Organisatorisch hat Arslan nichts auszusetzen, außer: „Warum bekommt man keine Wahlbenachrichtigung? So weit ich gehört habe, wird die nur per Mail verschickt. Es gibt deutlich ältere Türken in Deutschland als mich, die auch kein Internet haben. Eine Briefwahl würde helfen!“
Da schaltet sich Ahmet Cellek ein. Er hat ein paar Satzfetzen von Arslan aufgefangen und kann nicht zustimmen. „Natürlich habe ich Erdogan gewählt“, beginnt der 57-jährige Mitarbeiter der Münchner Stadtentwässerung. Er hat sich kurz freigenommen, um wählen zu können. Seit 1969 lebt Cellek in München, verfolgt aber genau die Politik seines Herkunftslandes.
Ein spontanes Streitgespräch entzündet sich zwischen Cellek und Arslan. Cellek verweist auf die Geschichte: „Wie war denn die Lage vor Erdogan? Ich zähle es Ihnen auf: Das Land war permanent verschuldet, Frauen mit Kopftuch wurden diskriminiert, durften nicht in Behörden arbeiten oder zur Uni gehen, in den 1960ern hat das Militär den demokratisch gewählten Premierminister Adnan Menderes gehängt, ein weiterer Präsident, Turgut Özal, wurde mutmaßlich vergiftet…“
Arslan unterbricht Cellek und bezieht sich auf die Gegenwart: „Erdogan hat das ganze Land verkauft. Unter dem Deckmantel der Privatisierung hat er Staatseigentum veräußert und die Taschen der politischen Elite vollgestopft. Aber der normale Bürger ist arm! Kühlschränke und Waschmaschinen kann man ja nicht essen!“ Arslan bezieht sich auf Wahlkampfstrategien der regierenden AKP, dass sie vor den letzten Urnengängen regelmäßig zu den Ärmsten der Armen fuhr, Waschmaschinen sowie Kühlschränke verschenkt habe und so um Stimmen warb.
Die Diskussion wird lauter, eine kleine Menschentraube bildet sich. Eine Wahl-Organisatorin geht dazwischen, bittet die beiden, sich zu mäßigen und im Wahllokal auf politische Debatten zu verzichten. Arslan und Cellek sehen das sofort ein und verabschieden sich höflich voneinander. Doch das Streitgespräch legt den massiven ideologischen Graben zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern frei. Beide Seiten wirken unversöhnlich und sind für nüchterne Argumente unzugänglich.
Ein weiteres kurzes Gespräch mit dem Ehepaar Emine und Okan Karayanik (beide 33) zeigt: Erdogan hat nicht nur konservative ältere Anhänger, was seit über 16 Jahren wohl eines seiner Erfolgsgeheimnisse an der Wahlurne ist. Emine Karayanik durfte zwar nicht wählen, weil sie lediglich eine „blaue Karte“, also einen Anrechtsschein auf die türkische Staatsbürgerschaft hat, nachdem sie sich vor einiger Zeit für die deutsche Staatsbürgerschaft entschied und die türkische abgeben musste. „Natürlich hätte ich Erdogan und die AKP gewählt“, sagt sie. „Vor allem international repräsentiert er unser Land mit viel Würde“, sagt Okan Karayanik, „der Türkei geht es besser, seit er an der Macht ist.“
Angesprochen auf die eingeschränkte Pressefreiheit und lange Inhaftierungen ohne Anklageschriften sagen beide: „Das ist verbesserungsfähig, klar. Erdogan ist halt nicht perfekt, aber er ist der Beste, den wir haben.“