Kontroverse um Özil und Gündogan

Eigentore in London

von Redaktion

Von Günter Klein

Dortmund – Am Montagvormittag war die Geschichte plötzlich in der Welt. Nur Joachim Löw und seine Trainerkollegen vom Deutschen Fußball-Bund bekamen sie zunächst nicht mit, denn sie saßen in Klausur und brüteten über der Frage: Wen nominieren für die WM, die am 14. Juni in Russland beginnt?

Irgendwann hat die Botschaft, dass die deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan sich in London mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan getroffen und ihm wunderbare Bilder für den nächsten Wahlkampf geliefert hatten und sich darüber sehr viele Leute aufregen, auch die Löw-Clique erreicht. Löw sagte dann: „Das ist keine glückliche Aktion.“

Am Dienstag, nachdem er im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund seine vorläufige Liste mit 27 Spielern für die WM bekannt gegeben hatte, wurde der Bundestrainer gefragt, ob er denn daran gedacht habe, die Herren Gündogan und Özil gar nicht mehr zu berücksichtigen. Normal antwortet Löw auf alles in getragener Ausführlichkeit, hier entschied er sich zum kürzesten denkbaren Statement: „Nein, keine Sekunde!“

Klare Botschaft: Der DFB ist getroffen von dem, was im Londoner „Four Seasons Hotel“ am Sonntag geschah – doch er wird, auch wenn er den Auftritt seiner Stars vom FC Arsenal (Özil) und Manchester City (Gündogan) missbilligt, die beiden nicht fallen lassen. Das wäre kontraproduktiv für die gesellschaftlichen Ziele, die der Verband anstrebt. „In unseren Großstädten“, erläutert DFB-Präsident Reinhard Grindel, „hat jedes zweite Kind Migrationshintergrund.“ Um all diese Kinder bemüht sich der Fußball – weil er sich dazu verpflichtet fühlt, aber genauso auch, um seinen breiten Nachwuchsbetrieb für die kommenden Generationen zu sichern.

Integration ist zum großen Thema des DFB geworden. Seit der WM 2010 profitiert er verstärkt von jenen Spielern, deren Eltern oder Großeltern einst aus anderen Kulturen nach Deutschland kamen. Es gab einen Werbespot des DFB, bei dem sich die Väter und Mütter der Nationalspieler zum fröhlichen Grillfest trafen – ein plakatives Bild eines weltoffenen Deutschland. Die Weltmeister von 2014 hießen Mesut Özil, Jerome Boateng, Shkodran Mustafi, Miroslav Klose, Lukas Podolski, Sami Khedira. Und längst wundert sich niemand mehr über dunkelhäutige Spieler im Deutschland-Dress.

Das Verbindende ist die Kernbotschaft des Fußballs, so sieht es Reinhard Grindel. Die Bilder von Özil und Gündogan mit dem umstrittenen Erdogan würden aber „das Trennende betonen“, sagt er. Wie wahr: Mit einem Mal waren alle diese Diskussionen wieder im Umlauf: Sind das überhaupt echte Deutsche, wenn sie Erdogan als ihren Präsidenten bezeichnen? Sogar der Grünen-Politiker Cem Özdemir verstieg sich zu einem konservativ-rügenden Ton: „Der Präsident dieser Spieler heißt Frank-Walter Steinmeier, und er sitzt in Berlin und nicht in Ankara.“

Auch Angela Merkel mischte sich gestern höchstpersönlich in die Debatte ein. Es sei eine Situation gewesen, „die Fragen aufwarf und zu Missverständnissen einlud“, ließ sie ihren Sprecher Steffen Seibert in Berlin ausrichten. Als Nationalspieler hätten die beiden Vorbildfunktion.

DFB-Grindel sagt: „Mir wäre lieber, es hätte dieses Foto nicht gegeben.“ Doch nun muss man eine Strategie dafür finden, wie man mit den Folgen umgeht. Der DFB-Präsident, der in Fragen seiner öffentlichen Darstellung seit einigen Wochen von der Agentur des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann beraten wird, plädiert für „einen maßvollen Umgang“. Er hofft, dass sich die Wolken verziehen und die sportlichen Themen die Oberhand gewinnen, wenn das Team nächste Woche sein Trainingslager in Eppan an der Weinstraße in Südtirol bezieht. Er möchte weder Özil noch Gündogan missen: „zwei überragende Fußballer.“

Oliver Bierhoff, der für die Nationalmannschaft zuständige DFB-Direktor, hatte am Montagabend Kontakt mit beiden Spielern, er versichert, beide hätten nicht die Absicht gehabt, sich vor einen Karren spannen zu lassen. Joachim Löw sagt, er könne Özil und Gündogan bei aller Kritik, die er teile, „ein bisschen auch verstehen. Bei Spielern mit Migrationshintergrund ist es so, dass zwei Herzen in ihrer Brust schlagen und das oft schwer unter einen Hut zu bringen ist.“ Er kennt die türkische Kultur ganz gut, er hat als Vereinstrainer am Bosporus gearbeitet, einer seiner Berater ist türkischstämmig.

Veranstalter des Abends in London war eine Stiftung, die türkische Studenten im Ausland unterstützt. Eingeladen war noch ein dritter deutscher Nationalspieler: Emre Can, ehemaliger Münchner, der beim FC Liverpool unter Vertrag steht und für die WM nicht nominiert wurde, weil er verletzt ist. Can sagte den Termin mit Erdogan ab. Özil und Gündogan gingen hin. „Eine Geste der Höflichkeit“, erklärte Gündogan in einer schriftlichen Stellungnahme.

Beide sind sie in Deutschland geboren und aufgewachsen, Özil in Essen, Gündogan in Gelsenkirchen. Vor allem Ilkay Gündogan gilt als topintegriert, sein Abitur machte er in Bayern zu der Zeit, als er beim 1. FC Nürnberg spielte, er hat ein gewinnendes Wesen, ist rhetorisch begabt. Kritik erntete er allenfalls dafür, dass er Borussia Dortmund, das ihn durch eine lange Verletzungszeit gebracht hatte (inklusive eines umstrittenen Reha-Aufenthalts in einem Militärhospital auf der Krim), bei erster Gelegenheit nach England verließ.

Özil ist der Star der deutsch-türkischen Community. Der erfolgreichste Deutsche überhaupt in den sozialen Netzwerken. Weltmeister, regelmäßig Nationalspieler des Jahres. Vor zwei Jahren hatte er schon mal mit Fotos überrascht: von der Pilgerfahrt nach Mekka und dem Besuch eines Flüchtlingslagers im Jemen. Darüber gesprochen hat er nie. „Privatsache.“ Er schweigt auch jetzt.

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