München – Der Angriff kommt wie aus dem Nichts. Ein kurzer Atemzug. Sein Körper strafft sich. Dann rammt Alexander B. den Polizisten zu Boden, wie beim American Football. Ein Gerangel, dann hält B. plötzlich die Pistole in der Hand. Acht Mal drückt er ab, ein Schuss trifft Jessica Lohse, 27, in den Kopf. Die junge Kommissarin sackt zusammen. Genau 23 Sekunden dauert die Attacke, die ihr Leben verändert.
Diese schockierenden Szenen ließ Richter Philipp Stoll gestern beim Prozessauftakt im Hochsicherheitssaal der JVA Stadelheim als Beweismittel abspielen. Überwachungskameras im S-Bahnhof hielten jedes Detail der Schießerei fest. Vor Gericht muss sich Alexander B., der als psychisch krank gilt, nun wegen versuchten Mordes verantworten. 70 Zeugen sollen im Prozess aussagen.
Das Drama von Unterföhring beginnt am 12. Juni 2017, einen Tag, bevor es auf dem Bahnsteig in dem Münchner Vorort zu der Gewalttat kommen sollte. Der Mann, der Polizeikommissarin Jessica Lohse Stunden später ins Wachkoma schießen wird, landet gegen 21 Uhr auf dem Münchner Flughafen. Dort verbringt Alexander B. die Nacht. Vor Gericht erzählt er über seinen damaligen Zustand (siehe Artikel unten). „Ich fühlte mich nicht gesund. Deshalb wollte ich zu meiner Cousine und anderen Verwandten nach Schwabhausen und Dachau“, erinnert er sich. Seine Gedanken rasten, erzählt er vor Gericht. Das Gepäck holte er erst gar nicht ab.
Am nächsten Morgen, 8.01 Uhr, steigt Alexander B. in die S-Bahn Richtung Münchner Innenstadt. Er trägt ein royalblaues T-Shirt, kurze, rote Hosen und schwarze Trekkingschuhe, auf dem Rücken ein dunkler Rucksack. Überwachungskameras dokumentieren seinen gesamten Weg. In dem Zug nimmt er in einer leeren Vierersitzgruppe Platz. Schräg gegenüber tippt eine blonde Dame in ihr Handy, sie wird schnell auf Alexander B. aufmerksam. Denn der führt plötzlich Selbstgespräche, flucht immer wieder auf Englisch. Mehrmals hält er sich die Hände vor sein Gesicht, rauft sich die Haare, wankt nervös hin und her.
Am Bahnhof in Ismaning steigt ein junger Mann zu, lässt sich etwa vier bis fünf Sitzreihen entfernt nieder. Es ist Florian P., der wenige Sekunden später ohne erkennbaren Grund attackiert wird. Alexander B. steht auf, marschiert den Gang entlang und schlägt ansatzlos auf Florian P. ein. Mehrere Fausthiebe treffen ihn, er blutet im Gesicht, beide gehen zu Boden. Andere Fahrgäste greifen ein, halten B. zurück und kümmern sich um den Verletzten. Noch bevor der Zug in den Unterföhringer Bahnhof einfährt, geht bei der Polizeiinspektion Ismaning der Notruf ein.
Jessica Lohse und ihr Kollege Stefan Müller (Name geändert) machen sich auf den Weg. Randalierer in der S-Bahn. Routineeinsatz, denken sie zunächst. Als die beiden Polizeikommissare am Bahnsteig eintreffen, steht eine Gruppe von Fahrgästen in der Nähe eines Liftes. Sie haben Alexander B. eingekreist. Der 38-Jährige ist ruhig, beobachtet, wie die Polizisten die Zeugen befragen. Es sind die letzten Augenblicke vor dem 23 Sekunden langen Drama, das alles verändert.
Alexander B. stürzt sich ohne Vorwarnung auf Stefan Müller, der gerade mit einem Zeugen im Gespräch ist. Im selben Moment fährt eine S-Bahn ein. B. will den Polizisten auf die Gleise schubsen, ihn töten, da ist sich die Staatsanwaltschaft sicher. Der Beamte stürzt an der Bahnsteigkante, der Zug rauscht knapp an seinem Kopf vorbei. Jessica Lohse eilt ihrem Kollegen zu Hilfe. Auf dem Bahnsteig entwickelt sich ein Gerangel, aus dem Alexander B. plötzlich mit einer Pistole in der Hand hervorgeht. Es ist die Polizeiwaffe von Stefan Müller, die jetzt gegen ihn selbst gerichtet wird. Der Polizist will flüchten, Alexander B. drückt fünf Mal ab. Die Projektile schlagen an der stehenden S-Bahn ein, prallen von dort teilweise ab und treffen als Querschläger unbeteiligte Passanten. Zwei Männer erleiden Durchschüsse an Schienbein und Oberarm.
Noch ist unklar, wie Alexander B. an die Waffe kam. Polizeiwaffen sind an dem Holster der Beamten gesichert. Auch an der Pistole selbst befinden sich Sperrmechanismen. Hatte B. nur Glück oder wusste er, was er tut? Sein Verteidiger Wilfried Eysell sagte am Rande des ersten Prozesstages: „Mein Mandant ist in Amerika aufgewachsen. Er lernte dort den Umgang mit Waffen.“
In der Zwischenzeit hat auch Jessica Lohse ihre Waffe gezogen, zielt nun auf Alexander B. und durchschießt seine Hüfte. Doch B. feuert zurück, trifft Jessica Lohse oberhalb des rechten Auges. Die Patrone durchschlägt ihren Kopf, reißt dabei eine Arterie ab. Die Sauerstoffversorgung zum Gehirn ist unterbrochen. Die Polizeikommissarin sackt zusammen. Ärzte retten ihr Leben in mehreren Not-OPs, müssen aber einen großen Teil des Gehirns entfernen. Jessica Lohse wird ihr Leben lang ein Pflegefall bleiben.
Alexander B. hat es nicht eilig, als er den Bahnsteig verlässt. Zuerst will er über einen Parkplatz flüchten. Doch er dreht um und betritt das Gelände der Allianz-Versicherung. Er schlüpft unter der Sicherheitsabsperrung durch und wird dort sogar noch von Sicherheitspersonal angesprochen. Trotzdem gelingt es ihm, ins Gebäude zu kommen. Dort versteckt er sich in einem Spind, wo er Minuten später festgenommen wird.