Fulda – Plötzlich wird die Sicht im Cockpit des neuen ICE 4 schlechter: Erst sind es nur ein paar Schneeflocken, dann ist es eine weiße Wand, die Lokführer Ronny Höger vor sich sieht – Wintereinbruch, passend zur Jahreszeit. Glücklicherweise sitzt Höger nicht in einer richtigen Lok, sondern in einem Simulator. Starkes Schneetreiben ist aber nur eine der Überraschungen, auf die sich der Lokführer hier einstellen muss. Auch andere Wetterlagen oder technische Störungen können in diversen Szenarien entstehen. Alles, was einen Lokführer im Alltag erwarten kann. Gesteuert wird die Übung im Zug-Simulator durch Computer-Animationen.
„Wir können auch einstellen, dass der Kollege im Hochsommer durch Insektenschwärme fährt und die Scheibe verschmutzt wird“, sagt Holger Schulze und deutet damit die digitalen Möglichkeiten an. Er sitzt in Fulda vor Computer-Monitoren und ist Instruktor bei der Deutschen Bahn. Schulze trainiert die Lokführer unter anderem für ihren Einsatz in der neuen ICE-Generation. Der ICE 4 ist das neue Flaggschiff im Fernverkehr des Konzerns. Er ist seit dem 10. Dezember auf der Schiene unterwegs. Auf der milliardenteuren neuen Schnellstrecke München-Berlin verlief der Start allerdings holprig: Wegen schlechten Wetters sowie technischer Probleme verspäteten sich einige Züge deutlich oder fielen ganz aus.
In Fulda dagegen läuft alles glatt. Dort befindet sich der einzige Simulator für den ICE 4 in Deutschland. Und hier trainiert Ronny Höger aus dem südhessischen Groß-Umstadt für seinen Einsatz. Er ist seit 1993 Triebfahrzeugführer – so lautet die korrekte Berufsbezeichnung. „Lokführer ist aber auch okay“, sagt er lächelnd. Um den neuen ICE 4 kennenzulernen, ist er zum zweitägigen Training im Simulator angereist. Höger gehört zu einer Auswahl an Lokführern, die in den Genuss kommen, das neue Spitzenmodell der Bahn steuern zu dürfen. „Das ist eine besondere Herausforderung und auch eine Ehre, die einen stolz macht“, sagt der 45-Jährige.
Das Trainingszentrum hat die Bahn in Fulda eingerichtet, weil es dort verkehrsgünstig in der Mitte Deutschlands gelegen ist. Es ist zugleich das bundesweit größte Trainingszentrum der Bahn. Allein fünf Nachbauten sind dort aufgebaut. Die Bahn betreibt an insgesamt zwölf Standorten in Deutschland Simulatoren verschiedener ICE-Baureihen. Abgesehen von Fulda stehen dort aber meist nur ein oder zwei der Trainingsgeräte, wie Stefan Endres erklärt, der stellvertretende Leiter bei DB Training für den Bereich Technik-Simulatoren.
Der Simulator des neuen ICE 4 ist in einer Halle des Trainingszentrums untergebracht. Das 2,5 Tonnen schwere Hightech-Gerät wirkt wie ein futuristischer, weißer Container. Kostenpunkt: mehr als eine Million Euro. Über eine beleuchtete Treppe steigt Höger in die 2,5 Meter hohe, 3,5 Meter breite und 5 Meter lange Kabine. Dort nimmt er nun eine Fahrstunde, nachdem er sich zuvor in der Theorie mit dem ICE 4 vertraut gemacht hat.
In Echtzeit fährt Höger auf der Schnellfahrstrecke von Fulda nach Würzburg – mit bis zu 250 Stundenkilometern. Das Führerhaus wirkt auf ihn moderner als bei den vorigen ICE-Baureihen. „Ein optischer Unterschied sind nun die Touchscreens“, sagt er und drückt mit seinem Zeigefinger auf einen der tastempfindlichen Monitore. Die Steuerungseinheit im Simulator ist eine 1:1-Nachbildung des ICE 4.
Seit der Inbetriebnahme des Geräts im August haben bereits mehr als 170 Lokführer das Coaching absolviert. Nach und nach sollen alle der rund 2100 im Fernverkehr tätigen Lokführer den neuen Schnellzug kennenlernen. Bis ein Lokführer das neue Vorzeigemodell im Regelbetrieb steuern darf, vergehen sechs bis neun Tage Aus- und Weiterbildung in Theorie und Praxis. Am Ende steht eine Prüfung.
Aber selbst wenn die Prüfung geschafft ist, werden die Lokführer regelmäßig gecoacht. „Einmal im Jahr werden sie nach Fulda eingeladen, um ihre Kompetenzen zu erhalten und auszubauen“, erklärt Steffen Renisch, Leiter der Qualifizierungsentwicklung bei DB Fernverkehr. So gebe es etwa immer mal Software-Updates.
Lokführer Höger passiert derweil in der Fahrstunde lange Tunnel und weite, grüne Wiesen entlang der Strecke. Per Durchsage hört er von Fahrlehrer Schulze, dass sich seine Einfahrt in den Bahnhof Würzburg verzögert. Schulze simuliert in dem Moment den Fahrdienstleiter in der Zentrale. Er ist der Herr über das Übungsszenario – und kann auch einstellen, dass sich der tonnenschwere Simulator-Container per Hydraulik bewegt und so das Fahrgeschehen nachempfindet. „Alles sehr realistisch“, meint Höger.
Das Nachstellen von Übungsszenarien hat aber auch Grenzen. Schnellbremsungen wegen eines Lebensmüden oder eines Spaziergängers auf den Gleisen gibt es im Repertoire nicht. „Wir simulieren hier keine Unfälle“, betont ICE-Fahrlehrer Schulze und lässt seinen Fahrschüler schließlich ohne Zwischenfälle am Zielbahnhof einfahren.