München – Der Stammgast im Café, der jedes Mal die Gabel fallen lässt, wenn die 16-jährige Bedienung vorbeikommt und Kommentare in Richtung Brüste oder Po loswird, wenn sie sich danach bückt. Der ältere Mann, der die Zwanzigjährige auf dem Weg zur Kneipentoilette abpasst, weil er „einfach Danke sagen wollte für diese schönen Brüste“, auch im Namen seiner Freunde. Die abgerutschten Hände im Gedränge von Wiesn, U-Bahn oder Club. Die Sprüche aus dunklen Autofenstern an die Radfahrerin, die nachts an der Ampel stoppt.
Die Bedienung, die Zwanzigjährige, die Frau im Gedränge, die Radfahrerin: Das bin ich, Autorin dieses Textes. Das ist zunächst einmal nicht weiter bemerkenswert. Statistisch gesehen müsste beinahe jede zweite Frau und gut jeder achte Mann in Deutschland ähnliche Geschichten über sexuelle Belästigung erzählen können. Nur: Oft tun sie es nicht. Laut einer Umfrage haben 35 Prozent der belästigten Frauen mit niemandem über die Vorfälle geredet, nur vier Prozent diese bei Arbeitgeber oder Polizei gemeldet.
Auch Sabine, 41 Jahre, möchte ihre Geschichte nur anonym erzählen. Deswegen taucht ihr Nachname, wie auch der anderer Betroffener, in diesem Text nicht auf. Sabines Geschichte beginnt „mit dem Klassiker“, wie sie sagt. Weihnachtsfeier, ein paar Gläser zu viel. Der Chef und sie, seine Assistentin, in einer Ecke, nah beieinander, die Erinnerung verschwommen. Sie ist sich sicher, dass sie ihn weggeschoben hat. Nur wann genau, da ist sie sich nicht ganz so sicher. Gelacht hat sie dabei auch, daran erinnert sie sich. Und daran, dass Kolleginnen sie gesehen haben, das Lachen, die Nähe. Das Wegschieben nicht. „Ich habe den Abend dann als peinliches Erlebnis abgehakt“, sagt Sabine.
Aber es geht weiter: Seit dem Vorfall legt ihr der Chef immer wieder bei Gesprächen wie zufällig die Hand aufs Bein. Erzählt ihr von seinen Bettgeschichten. Streicht ihr manchmal eine Haarsträhne hinters Ohr, während sie redet. Fasst ihr einmal ungeniert und unbeobachtet an den Po. Sie bittet ihn, zur rein professionellen Ebene zurückzukehren. „Wenn ich Ihnen einen anderen Eindruck vermittelt habe, tut mir das leid“, sagt sie. Er lacht. „Sehen doch alle, dass dir das gefällt.“
Experten sagen: Ob Betroffene wie Sabine reden oder schweigen, hängt von vielen Faktoren ab – persönlicher Hintergrund, soziale Anbindung, Kontext des Vorfalls, Zukunftsängste. Wichtig ist auch die rechtliche Lage und die Frage, welches Verhalten von der Gesellschaft akzeptiert oder verurteilt wird.
Und da ändert sich gerade etwas. Seit dem 10. November 2016 ist „Sexuelle Belästigung mit körperlicher Berührung“ ein Straftatbestand. Vorher konnte man sie nur als Beleidigung mit sexuellem Hintergrund anzeigen. Allerdings: Fehlt die körperliche Berührung, bleibt die Belästigung auch heute noch maximal eine Beleidigung.
Spätestens mit der Gesetzesverschärfung kam auch die öffentliche Debatte in Gang. Wird sexuelle Belästigung in Gesellschaft und Medien diskutiert, enttabuisiert das das Thema, glaubt Jelena Stanilov vom Frauennotruf München (siehe Interview unten). Aktuelles Beispiel: die Belästigungs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein und die darauf folgende Aktion in den sozialen Netzwerken. Immer mehr Betroffene aus der Film- und Medienbranche meldeten sich zu Wort oder veröffentlichten Erlebnisse unter dem Schlagwort #metoo (deutsch: ich auch). Gestern wurden sie vom „Time Magazine“ zu den Personen des Jahres erklärt (siehe Ressort Menschen).
Den Stars folgten bald auch Betroffene ohne Berühmtheitsgrad. Andrea, 25, hat ebenfalls einen Beitrag zu #metoo gepostet. Gedacht hat sie dabei an die Anmachversuche, die nicht enden, weil man darum bittet. An die ungewollten Berührungen auf den Brüsten, zwischen den Beinen, am Po. Andrea glaubt, dass die meisten Frauen Ähnliches erlebt haben wie sie: „Wenn jede Frau in sich geht, könnte wohl beinahe jede ein #metoo posten.“ Genau deshalb habe sie mitgemacht, um auf die hohe Zahl an Opfern aufmerksam zu machen – und die hohe Zahl der Täter.
Bei dem Thema, sagt Andrea, gebe es einfach kein „nicht schlimm genug“, um den Mund aufzumachen. Das Problem: Häufig haben die Opfer selbst Schuldgefühle. Der Rock zu kurz, der Lippenstift zu aufreizend – solche Reaktionen sind noch immer verbreitet.
Auch Sabine überlegt heute noch, was sie falsch gemacht hat. Ihre Gedanken kehren oft zurück zu den verschwommenen Momenten auf der Weihnachtsfeier, vor dem Wegschieben. „Danach habe ich ihm ja klar gesagt, was ich nicht will“, sagt sie. Ihr Chef hört dennoch nicht auf mit den Berührungen und Zweideutigkeiten. Bald gibt es Gerüchte, es liefe da etwas zwischen ihnen. Er streitet das nicht ab, zwinkert ihr stattdessen vor allen zu, wenn das Thema aufkommt. Sie streitet es zwar ab, erzählt aber niemandem von den Belästigungen. Sabine fühlt sich immer häufiger krank, sucht sich schließlich eine neue Stelle. Ihren Ex-Chef hat sie seit zwei Jahren nicht gesehen, etwas Ähnliches seitdem nicht mehr erlebt. Warum sie trotzdem so gut wie nie darüber spricht? „Ich schäme mich.“
Andrea ist offensiver. „Keine Sekunde“ hätte sie gezögert vor ihrem Beitrag. Das Hauptproblem sei, dass vielen Männern nicht bewusst sei, wenn sie eine Grenze überschreiten. Mit einem Kollegen hat sie neulich über Komplimente diskutiert. Sie: „Es ist ein Unterschied, ob du sagst, dass ich gute Arbeit geleistet habe oder so was wie: ,Dein Arsch ist geil‘“. Darauf er: „Wieso? Ich kann doch wohl sagen, dass du einen sexy Hintern hast.“ Sie: „Ich schaue dir ja auch nicht zwischen die Beine und mache einen Kommentar darüber, wie groß dein Penis ist.“ Er: „Das ist ja wohl was völlig anderes.“
Auffällig ist: Bei #metoo haben sich kaum Männer zu Wort gemeldet. Und wenn, dann fast nie als Opfer. Lars, 32, ist eine Ausnahme. Er erzählt auf Facebook, wie ihm eine ältere, verheiratete Bekannte immer wieder gegen seinen Willen eindeutige Angebote und Avancen gemacht und ins Hemd gegriffen hat. Lars schreibt: „Nein, es ist nicht geil, man fühlt sich hilf- und machtlos, wenn einem das passiert, man wird nicht ernst genommen, weil die primären Geschlechtsorgane zufällig außen hängen, man fühlt sich allein, weil man es mit sich selbst ausmachen muss. Und es kotzt mich an, nur darüber reden zu können, wenn ich es als witzige Story verkaufe.“
Die Reaktionen reichen von Überraschung über unangebrachte Witze bis zu Schuldzuweisungen. Eine Frau schreibt, einer, der als Teil seiner Selbstbeschreibung im Internet das Wort „Teilzeitcasanova“ verwende, müsse sich ja wohl nicht wundern. Aber Lars bekommt auch viel Zuspruch, viel mehr als erwartet. Er glaubt, dass viele Männer schweigen, weil sie aus dem Alltag gewöhnt sind, das Thema nicht ernsthaft ansprechen zu können. Als ihm ins Hemd gegriffen wurde, standen Bekannte daneben und lachten. „Obwohl sie ja sehen konnten, dass ich immer wieder Nein gesagt habe.“ Lars zufolge sollen Aktionen wie #metoo vor allem eines zeigen: „Wenn jemand Opfer ist, hat er oder sie Mitgefühl verdient. Punkt.“
Auch Sabines Ex-Chef hat die öffentliche Diskussion anscheinend zum Nachdenken angeregt. Vor zwei Wochen hat er bei ihr angerufen und gesagt, ihm sei klar geworden, dass er damals falsch gehandelt habe. Er bat sie um Entschuldigung. Dann ergänzte er: „Aber du hast einfach zu unwiderstehlich ausgesehen.“